Schadensabwicklung: "Werkstattrisiko"

Von A wie Antriebswelle bis Z wie Zentralverriegelung besteht ein durchschnittlicher Pkw heutzutage aus vielen tausend Einzelteilen. Die jeweiligen Fahrzeugkomponenten stammen von einer kaum überschaubaren Anzahl von Zulieferern sowie von den Herstellern selbst. Zur Behebung eines Unfallschadens bedarf es eines entsprechenden handwerklichen Einsatzes der Autohausmitarbeiter, eines entsprechenden Materialeinsatzes und nicht zuletzt einer fachkundigen Beurteilung, welche einzelnen Reparaturmaßnahmen und hieraus resultierend welche Reparaturkosten für die Instandsetzung des Unfallfahrzeugs anfallen. Diese Beurteilung erfolgt in aller Regel vor Reparaturbeginn durch ein Sachverständigengutachten oder einen Kostenvoranschlag des Autohauses. Wegen unzutreffend beurteilter und/oder verborgener Schäden kommt es im Einzelfall unvermeidbar zu einer zu niedrigen Beurteilung der Reparaturkosten durch den Gutachter oder das Autohaus. Erst während der Durchführung oder zum Abschluss der Reparaturmaßnahmen ergeben sich sodann höhere Kosten als ursprünglich veranschlagt. Für die Schadensabwicklung von Verkehrsunfällen hat die Rechtsprechung zu Gunsten eines Geschädigten unter dem Stichwort "Werkstattrisiko" gewisse Grundsätze aufgestellt, wonach der Unfallschädiger bzw. dessen Haftpflichtversicherung wegen einer fehlerhaften Prognose bzw. Berechnung der erforderlichen Reparaturkosten einen Schadensausgleich nicht verweigern können. Standardfall Ein regelmäßig in der Praxis vorkommender Standardfall ist folgender: Ein Unfallgeschädigter meldet sich bei dem Autohaus seines Vertrauens und teilt mit, dass er einen unverschuldeten Verkehrsunfall erlitten hat. Er fragt nach, wie weiter zu verfahren ist. Es findet unter Beiziehung eines Sachverständigen im Autohaus eine Untersuchung des Unfallfahrzeugs statt. Der Unfallschaden wird beurteilt, der Sachverständige erstellt ein Gutachten. Nachfolgend erteilt der Unfallgeschädigte dem Autohaus auf Basis des Gutachtens (oder auch lediglich auf Basis eines Kostenvoranschlags) den Reparaturauftrag. Auf dieser Basis erfolgt die Reparatur. Der Unfallgeschädigte macht gegenüber der Haftpflichtversicherung des Unfallschädigers die in Rechnung gestellten Reparaturkosten und Sachverständigengebühren geltend. Die Haftpflichtversicherung wendet nun nach Gegenprüfung durch einen eigenen Sachverständigen ein, Gutachten und/oder Reparaturrechnung enthielten Reparaturmaßnahmen, die für die Behebung der ursächlichen Unfallschäden nicht erforderlich seien. Es seien deshalb sowohl die Sachverständigenrechnung wie auch die Reparaturrechnung zu hoch ausgefallen. Die Haftpflichtversicherung verweigert mit dieser Begründung die Zahlung eines Teils der Rechnungsbeträge. Ersetzungsbefugnis/erforderlicher Herstellungsaufwand Ein Geschädigter, der sein Unfallfahrzeug im Sinne der sogenannten Naturalrestitution nicht dem Schädiger "vertrauensvoll" zur Reparatur überlässt (§ 249 Abs. 1 BGB), sondern es in eigener Verantwortung selbst zur Reparatur gibt, kann nach der gesetzlichen Lage grundsätzlich vom Schädiger den Geldbetrag ersetzt verlangen, der zur Wiederherstellung des beschädigten Fahrzeugs erforderlich ist (§ 249 Abs. 2 BGB). Man spricht bei Letzterem von der sogenannten Ersetzungsbefugnis des Geschädigten. Der erforderliche Herstellungsaufwand bei der selbst beauftragten Reparatur wird nach der Rechtsprechung des BGH bestimmt durch - Art und Ausmaß des Schadens, - die örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten für die Schadensbeseitigung und insbesondere - die persönlichen Erkenntnis- und Einflussmöglichkeiten des Geschädigten. Gerade bei der Reparatur von Kraftfahrzeugen ist zu berücksichtigen, dass den "Erkenntnis- und Einflussmöglichkeiten" eines Geschädigten wegen der komplizierten Technik und der Vielzahl von Fahrzeugkomponenten enge Grenzen für die Beurteilung des erforderlichen Herstellungsaufwands gesetzt sind. Lässt der Geschädigte sein Fahrzeug reparieren, sind nach höchstrichterlicher Rechtsprechung die durch eine Reparaturrechnung der Werkstatt belegten Aufwendungen im Allgemeinen ein aussagekräftiges Indiz für die Erforderlichkeit der angefallenen Reparaturkosten (BGH vom 20.06.1989, Az. VI ZR 334/88). Die durch die Rechnung ausgewiesenen Reparaturkosten stellen deshalb regelmäßig den erforderlichen Herstellungsaufwand dar. Risikosphäre des Schädigers Dies gilt selbst dann, wenn die Reparaturkosten etwa wegen überhöhter Ansätze von Material oder Arbeitszeit und/oder wegen unsachgemäßer oder unwirtschaftlicher Arbeitsweise der Werkstatt im Vergleich zu sonst üblichen Kosten für eine vergleichbare Reparatur (BGHZ 63,182, 186) überhöht sind. Es ergibt sich hieraus keine Verlagerung des grundsätzlich in der Sphäre des Schädigers angesiedelten Schadensrisikos. Er hat schließlich den Schaden verursacht und muss die Konsequenzen hierfür tragen. Es hat der Schädiger insoweit also das "Werkstattrisiko" zu tragen. Dieses Risiko hätte der Schädiger im Übrigen ebenso zu verantworten, wenn er nach dem Grundsatz der Naturalrestitution gemäß § 249 Abs. 1 BGB selbst die Schadensbeseitigung vorgenommen und die Werkstatt beauftragt hätte (BGH a. a. O.). In der Konsequenz muss also der Schädiger bzw. dessen Haftpflichtversicherung die vom Geschädigten bezahlte überhöhte Rechnung erstatten. Dies gilt selbst für den Fall, dass eine Werkstatt in strafrechtlich relevanter Art und Weise betrügerisch handeln würde. Auch ein solches Verhalten ist der Einflusssphäre des Geschädigten entzogen (BGH a. a. O.). Der Schädiger bzw. dessen Haftpflichtversicherung sind hierdurch nicht rechtlos gestellt, da sie vom Geschädigten die Abtretung von Schadensersatzansprüchen gegen den Reparaturbetrieb verlangen können. Zurechnungszusammenhang Wie im sonstigen Schadensrecht auch gilt für das "Werkstattrisiko", dass der Schaden dem Schädiger juristisch "zurechenbar" sein muss. Fehlt ein Zurechnungszusammenhang, so fehlt ein ersatzfähiger Schaden. Ein entsprechender Zurechnungszusammenhang ist beispielsweise und ausnahmsweise dann nicht anzunehmen, wenn hinsichtlich der beauftragten Werkstatt den Geschädigten ein sogenanntes "Auswahlverschulden" trifft. Es müsste der Geschädigte etwa bewusst eine überteuerte oder für die Reparaturausführung ungeeignete Werkstatt auswählen. Auch wenn Haftpflichtversicherungen von Zeit zu Zeit ein derartiges Auswahlverschulden einwenden, bleiben solche Einwendungen im Großen und Ganzen die Ausnahme. Darüber hinaus ist auf unfallursächliche Schadensfolgen zu achten: Wenn bei einem Auffahrunfall mit einem abgrenzbaren Heckschaden in der Reparaturrechnung beispielsweise der Austausch eines Schaltknaufs als Rechnungsposition ausgewiesen ist, so wird ein Zurechnungszusammenhang zum Verkehrsunfall und eine Schadensersatzverpflichtung nach "Werkstattrisiko" a priori nicht anzunehmen sein. Kurzfassung 1. Gemäß § 249 Abs. 2 BGB muss ein Geschädigter sein Fahrzeug zur Reparatur nicht dem Schädiger überlassen, er kann es vielmehr selbst reparieren lassen und den zur Reparatur erforderlichen Geldbetrag unter Vorlage der Reparaturrechnung ersetzt verlangen.2. Der in der Reparaturrechnung ausgewiesene Betrag stellt nach der Rechtsprechung des BGH grundsätzlich den regelmäßig erforderlichen Herstellungsaufwand dar.3. Aus der Reparaturrechnung ist gemäß BGH der erforderliche Herstellungsaufwand selbst dann zu entnehmen, wenn die Reparaturkosten etwa wegen überhöhter Ansätze von Material oder Arbeitszeit und/oder wegen unsachgemäßer oder unwirtschaftlicher Arbeitsweise überhöht sind. Der Schädiger bzw. dessen Haftpflichtversicherung hat insoweit das "Werkstattrisiko" zu tragen und Zahlung an den Geschädigten zu leisten.4. Der Schädiger bzw. dessen Haftpflichtversicherung sind hierdurch nicht rechtlos gestellt, da sie vom Geschädigten die Abtretung von Schadensersatzansprüchen gegen die Reparaturwerkstatt verlangen können.5. Wie im sonstigen Schadensrecht auch gilt für das "Werkstattrisiko", dass der Schaden dem Schädiger juristisch "zurechenbar" sein muss. Kommentar Das "Werkstattrisiko" ist eine von der Rechtsprechung seit langem entwickelte Konstruktion, die den Geschädigten im Rahmen der Schadensabwicklung entlasten soll. Für die Autohäuser bedeutet dies keine erhöhten Anforderungen oder Sorgfaltspflichten. Diese Anforderungen und Pflichten bestehen auf gleich hohem Niveau unabhängig davon, ob der Autohauskunde einen Reparaturauftrag mit oder ohne Rückdeckung durch die Haftpflichtversicherung eines Unfallschädigers erteilt. Es erweist sich im Einzelfall durchaus als hilfreich, wenn das Autohaus den Reparaturkunden auf die Grundsätze der Schadensabwicklung zum "Werkstattrisiko" hinweist, wenn der Kunde aufgrund von Monierungen der Haftpflichtversicherung wegen angeblich nicht erforderlicher Rechnungspositionen die Reparaturrechnung diskutieren möchte. Zu berücksichtigen ist, dass bei Abtretung von Reparaturkosten das Autohaus selbst Anspruchsteller gegenüber der Versicherung ist und sich nicht auf das "Werkstattrisiko" berufen kann..Rechtsanwalt Rainer Bopp

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