Von Benjamin Bessinger/SP-X
Autsch, das war knapp. Nur Millimeter schrammt der Bus am Kotflügel vorbei, nach vorne ist kein Platz zum Ausweichen, von der anderen Seite drückt ein Tuk-Tuk, im Rückspiegel macht sich die bunte Front eines Überlandlasters breit, drum herum schwirren die Motorräder wir die Insekten um eine der heiligen Kühe und über allem liegt die permanente Kakophonie der Hupen: Willkommen im Stadtverkehr von Bangalore. Willkommen in einer Acht-Millionen-Metropole, die Ex-Pats gerne als "Indien für Einsteiger" loben, die europäischen Autofahren aber wie der Vorort zur Hölle vorkommen muss.
Im Schritttempo plagen sich zigtausende von Kleinwagen, hunderte grün-gelber Dreirad-Taxen und unzählige Motorräder über breite Straßen, in denen nur die Unverschämtheit die Zahl der Spuren und die Fahrtrichtung bestimmt. Alle rumpeln sie über kniehohe Temposchwellen, poltern durch knöcheltiefe Schlaglöcher und fahren Slalom um die allgegenwärtigen Kühe, die selbst in der Innenstadt das Klischee erfüllen und stoisch durch den Stau trotten. Für vier, fünf Kilometer braucht man hier auch schon mal zwei, drei Stunden. Auf Kreuzungen herrscht das reine Chaos, Rücksicht wird durch Hupen ersetzt, und dass man alle paar hundert Meter einen U-Turn machen muss, wenn man abbiegen will, ist dem Verkehrsfluss nicht gerade förderlich. Genauso wenig wie die Ampelphasen, die bisweilen zwei, drei Minuten dauern und das Gewusel von jetzt auf sofort einfrieren lassen.
Shiva ist natürlich Profi
Doch Shiva lässt sich von der Hektik und dem Durcheinander in diesem automobilen Ameisenhaufen nicht anstecken. Und obwohl auch seine Hupe auf eine stärkere Beanspruchung ausgelegt ist, lässt er die Finger vom Prallteller im Lenkrad: "Die Hupe ist nur was für Amateure", sagt der Mittvierziger. "Wer etwas auf sich hält und Profi ist, der fährt flüsterleise durchs Chaos." Und Shiva ist natürlich Profi. Schließlich chauffiert er sonst die Spitzenmanager aus dem Daimler-Forschungszentrum durch den Dauerstau.
Sein Dienstwagen ist ein Mercedes GLC, mit dem man sich zwischen all den automobilen Verzichtserklärungen auf den Straßen von Bangalore so vorkommt wie bei uns in einem Bentley. Nicht umsonst verkauft Mercedes-Statthalter Roland Folger dem 1,8-Milliarden-Volk im Jahr gerade einmal 13.000 Autos. Aber dem Marktführer in dem mit 35.000 von 2,8 Millionen Fahrzeugen winzigen Premium-Segment ist das bereits genug für ein eigenes Montage-Werk: In Pune schrauben Mercedes-Mitarbeiter im Jahr rund 11.000 Bausätze aus Deutschland und den USA zusammen. "Das macht Pune zum größten Montagewerk in unserem globalen Produktionsverbund", meldet Folgers Mannschaft stolz und blickt zurück auf eine Million Autos, die dort seit der Eröffnung vor 21 Jahren montiert wurden. Und eines der vielseitigsten ist es ohnehin. Schließlich entstehen dort mittlerweile neun Baureihen in lokaler Produktion – darunter auch die Maybach-Version der S-Klasse und seit ein paar Monaten auch den GLC, der nach E- und C-Klasse das Zeug zur Nummer Drei in Folgers Portfolio hat.
"Denn SUV sind hier noch stärker gefragt als im Rest der Welt", sagt Folger und die Straßenverhältnisse geben ihm recht. Nicht nur, weil man sich in einem Auto wie dem GLC nicht sonderlich viele Gedanken über den Zustand der Straße machen muss. Sondern vor allem, weil man buchstäblich über den Dingen steht und in diesem Chaos wenigstens halbwegs den Überblick bewahrt.
Heimliche Ordnung im Chaos
Zwar wirkt der Verkehr, als gäbe es hier keine Regeln. Und für Außenstehende ist das System auch nicht zu durchschauen. "Aber es gibt eine heimliche Ordnung in diesem Chaos", sagt Manu Saale, der das Mercedes-Forschungszentrum in Bangalore leitet und viel dafür geben könnte, wenn seine millionenschweren Computer dieses Rätsel für das autonome Fahren entschlüsseln könnten. Denn ein Assistenzsystem, das den Höllenritt in Hindustan bewältig, für den sind die Straßen im Rest der Welt ein Sonntagsspaziergang.
Dabei ist es eigentlich ganz einfach: Man schaut stur nach vorne, erwartet keine Rücksichtnahme und macht sich über Vorfahrtsregeln keine Gedanken. Stattdessen fährt man beim Abbiegen langsam aber unbeirrt in die Gegenspur, bleibt stehen wann und wo man will und wendet mitten auf der größten Kreuzung der Stadt. Was die anderen davon halten, darum kümmert man sich nicht einmal am Rande. Wenn jeder an sich denkt, ist auch an alle gedacht, lautet die Devise. Und weil das jeder weiß und vom anderen nichts erwartet, ist das Risiko mit einkalkuliert. "Ich weiß, was alles schiefgehen kann und stelle mich von vorn herein darauf ein", umschreibt Mercedes-Forscher Saale den indischen Fahrstil und wundert sich selbst, wie gut das funktioniert. Zwar hat Indien jedes Jahr über 140.000 Verkehrstote zu verzeichnen und gehört in der Unfallstatistik zu den traurigen Spitzenreitern. Doch in den Städten kracht es überraschend wenig, man hört selten Sirenen, sieht nie Blaulicht und auch die Autos zeigen kaum Kampfspuren. Da hinterlassen die rüden Parksitten in Paris mehr Spuren im Blech als das heillose Durcheinander auf den Straßen von Bangalore.
Auf die uniformierte Ordnungsmacht sollte man sich dabei übrigens nicht verlassen – selbst wenn bisweilen mal ein Schutzmann auf der Kreuzung steht. Denn in der Acht-Millionen-Metropole gibt es gerade einmal sechs Blitzer-Ampeln. Die Tempolimits sind mit 60 in der Stadt zu hoch und mit 80 auf dem Land zu niedrig und werden ohnehin kaum kontrolliert. Und selbst wenn es einen mal erwischt, sind die Strafen vergleichsweise milde: Ein Tempo-Verstoß kostet umgerechnet 6 Euro und eine rote Ampel 1,50 Euro. Allerdings ist beim dritten Mal der Führerschein weg – wenn man denn überhaupt erwischt wird.
Ohne Talisman traut sich keiner auf die Straße
Cheffahrer Shiva hat denn auch eine ganz andere Erklärung dafür, dass er seinen GLC mal wieder unfallfrei durchs Chaos bugsiert und es in kaum drei Stunden quer durch die Stadt bis vor die Firma geschafft hat: Die kleine Mischung aus Elefant und Buddha, die den Gott Ganesha symbolisiert und vom Händler nicht ohne Grund jedem Neuwagen beigelegt wird: "Ohne diesen Talisman traut sich hier keiner auf die Straße", sagt Shiva. Und nach einem halben Tag im Herzen der Autofahrer-Hölle mag man ihm beim besten Willen nicht widersprechen.
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Bernhard Buchner