Neuwagenverkauf: Keine Bagatelle

Mit Urteil vom 26.10.2016 (Az. VIII ZR 211/15) hat der Bundesgerichtshof (BGH) ein weiteres Urteil im Sinne des Verbraucherschutzes gesprochen. Mit dieser Entscheidung wird den Autohäusern noch einmal deutlich nahegebracht, dass sie bei der Anlieferung von Neufahrzeugen durch den Hersteller und bei der Übergabe an den Käufer mit großer Sorgfalt handeln müssen. Wie man an dem vorgenannten BGH-Urteil sieht, können selbst vermeintliche oder auch tatsächliche "Bagatellen" zu großem Zeit-, Nerven- und Kostenaufwand führen. Der Fall: Neuwagenlieferung mit Lackbeschädigung Ein Autohaus - die spätere Klägerin - verkaufte an einen Verbraucher - den späteren Beklagten - aufgrund einer Bestellung aus Januar 2013 ein Neufahrzeug zum Preis von 21.450 Euro. Die Parteien vereinbarten kostenfreie Lieferung an den Wohnsitz des Beklagten. Bei Anlieferung im Juli 2013 wies das Fahrzeug an der Fahrertür eine kleine Beschädigung auf. Im Lieferschein der Spedition ist insoweit vermerkt, dass eine "kleine Delle Fahrertür" vorhanden ist. Noch am Tag der Anlieferung rief der Beklagte die Klägerin an und teilte mit, dass er das Fahrzeug "zurückweise". Nachfolgend erklärte der Beklagte gegenüber der Klägerin per Telefax: "Leider ist die kleine Delle, wie im Lieferschein beschrieben, nicht so ganz klein. Diese verläuft über die Grundierung bis aufs Grundmaterial (Blech) spitz in ca. 2 - 3 mm tief hinein. (...) Bis zur endgültigen Klärung des Sachverhaltes kann ich den Zahlungsauftrag nicht freigeben." Die Klägerin machte mit nachfolgendem Schreiben geltend, es handele sich um einen "Bagatellschaden", und bat um Überweisung des vollständigen Kaufpreises. Der Beklagte übersandte ihr daraufhin den Kostenvoranschlag eines Autolackierbetriebes, wonach Lackierkosten in Höhe von 528,30 Euro entstünden. Mit weiterem Schreiben erklärte die Klägerin, sie werde bei Vorlage des Originals der Reparaturrechnung ohne Anerkennung einer Rechtspflicht maximal 300 Euro übernehmen. Daraufhin schaltete der Beklagte einen Anwalt ein. Dieser forderte mit Anwaltsschreiben unter Fristsetzung die Klägerin auf, den Lackschaden für den Beklagten kostenfrei zu beheben. Der Beklagte hatte bis dahin das Fahrzeug unbenutzt stehen lassen. Die Klägerin ließ nachfolgend das Fahrzeug bei dem Beklagten abholen und instand setzen. Geltendmachung von Schadensersatz nach Schadensbeseitigung Nach Reparatur der vorhandenen Beschädigung lieferte die Klägerin das Fahrzeug an den Beklagten aus. Daraufhin bezahlte der Beklagte den vollständigen Kaufpreis. Unter Berufung auf ein eingeholtes Angebot behauptete die Klägerin gegenüber dem Beklagten, der Lackschaden sei mit einem Kostenaufwand von lediglich 249,90 Euro zu beseitigen gewesen, und verlangte Schadensersatz: Verzugszinsen auf den zu spät bezahlten Kaufpreis i.H.v. 235,65 Euro, Kostenerstattung für die Rückholung und die erneute Auslieferung des Fahrzeugs in Höhe von insgesamt 517,64 Euro sowie "Standgeld" i.H.v. 621,00 Euro. Nachdem der Beklagte die Bezahlung verweigerte, kam es zum Rechtsstreit. Klageabweisung in den Vorinstanzen Das Autohaus verlor in den beiden ersten Instanzen. Das zweitinstanzlich zuständige Landgericht (LG) führte in seinem Berufungsurteil aus, dem Autohaus stehe kein Schadensersatzanspruch zu. Der Käufer habe sich nämlich weder mit der Abnahme des Fahrzeugs noch mit der Zahlung des Kaufpreises in Schuldnerverzug befunden. Bei der ersten Anlieferung des Fahrzeugs - so das LG - sei der Kaufpreis nicht fällig gewesen. Der Käufer sei vielmehr berechtigt gewesen, das Fahrzeug zurückzuweisen. Schließlich gelte bei einem Neuwagenkauf als vereinbart, dass das Fahrzeug unbeschädigt und fabrikneu zu sein habe. Auch unterliege das Recht eines Käufers zur Zurückweisung der Kaufsache nicht der Unerheblichkeitsschwelle im Sinne von § 323 Abs. 5 S. 2 BGB (Reparaturaufwand < 5 % des Bruttokaufpreises). Deswegen sei es ohne Belang, ob der erforderliche Reparaturaufwand für die Beseitigung der Lackbeschädigung 528,30 Euro oder lediglich 249,90 Euro betragen habe. Auch bei einem geringfügigen Mangel könne der Käufer verweigern, die ihm angebotene Ware als Erfüllung anzunehmen, denn das Angebot einer mangelhaften Leistung sei eine Teilleistung, die er zurückweisen dürfe. Das LG ließ in seinem Urteil die Revision zu, das Autohaus erhob Revision zum BGH. Entscheidung des BGH Der BGH bestätigte die Entscheidung des Berufungsgerichts und wies die Revision zurück. Auch nach der Auffassung des BGH geriet der Beklagte mit der Abnahme des Fahrzeugs und der Bezahlung des Kaufpreises nicht in Schuldnerverzug. Vielmehr konnte er die Abnahme des Fahrzeugs mit Rücksicht auf ein ihm zustehendes Leistungsverweigerungsrecht ablehnen. Schließlich hat der Verkäufer nach § 433 Abs. 1 S. 2 BGB dem Käufer die Sache frei von Sach- und Rechtsmängeln zu verschaffen. Das Leistungsverweigerungsrecht ergibt sich nach Darlegung des BGH aus § 273 Abs. 1 BGB. Es kann so lange geltend gemacht werden, bis einem Käufer der Kaufgegenstand in mangelfreiem Zustand - vorliegend für das Neufahrzeug also in einwandfrei lackiertem Zustand - angeboten wird. In einer "Zurückweisung" ist jedenfalls - so der BGH - stillschweigend die Geltendmachung des Zurückbehaltungsrechts zu sehen. Bisher hatte der BGH noch nicht entschieden, unter welchen Voraussetzungen der Käufer nach der Schuldrechtsreform eine mangelhafte Sache zurückweisen kann. Der BGH wörtlich: "Der BGH entscheidet die Rechtsfrage nunmehr dahin, dass der Käufer bei behebbaren Mängeln, auch wenn sie geringfügig sind, grundsätzlich ein Zurückbehaltungsrecht nach § 273 Abs. 1 BGB geltend machen kann, die Sache also nicht abnehmen muss, sondern sie bis zur Beseitigung des Mangels zurückweisen kann." Es ist vom BGH mit vorliegend besprochenem Urteil eine Unterscheidung von Bagatellschäden dahingehend getroffen, ob sich der Käufer vom Vertrag lösen will oder nicht. Will er sich vom Vertrag lösen (Regelfall: Rücktritt), ist die Unerheblichkeitsschwelle des § 323 Abs. 5 BGB zu beachten, will er sich nicht lösen, gilt die Unerheblichkeitsschwelle nicht. Kurzfassung 1. Gemäß § 433 Abs. 1 S. 2 BGB hat der Verkäufer dem Käufer die Sache frei von Sach- und Rechtsmängeln zu verschaffen. Bei Lieferung eines Neufahrzeugs mit (auch lediglich) einem Bagatellschaden liegt eine Pflichtverletzung des Verkäufers vor.2. Nach dem Urteil des VIII. Senats des BGH vom 26.10.2016 kann der Käufer die Abnahme des Neufahrzeugs und die Bezahlung des Kaufpreises so lange verweigern, bis das Fahrzeug in einwandfreiem Zustand angeboten wird. Bis zu diesem Zeitpunkt kann sich der Verkäufer auch wegen eines Bagatellschadens auf ein Zurückbehaltungsrecht nach § 273 Abs. 1 BGB berufen.3. Solange das Zurückbehaltungsrecht nach § 273 Abs. 1 BGB besteht, kann der Käufer nicht in Verzug geraten.4. Will der Käufer am Vertrag über das Neufahrzeug festhalten, ist im Hinblick auf den Reparaturaufwand für einen Bagatellschaden eine Unerheblichkeitsschwelle (Regelfall: Reparaturaufwand < 5 % des Kaufpreises) nicht zu beachten. Kommentar Die Lieferung eines Neufahrzeugs auch mit lediglich einem Bagatellschaden stellt im Hinblick auf § 433 Abs. 1 S. 2 BGB eine Pflichtverletzung des Verkäufers dar. Der VIII. Senat des BGH leitet hieraus für den vorliegend besprochenen Fall ein Zurückbehaltungsrecht des Käufers bezüglich Abnahme und Zahlung des Kaufpreises ab. Dies ist jedoch nicht selbstverständlich. Das Zurückbehaltungsrecht des § 273 BGB ist nämlich ein besonderer Anwendungsfall des Verbots unzulässiger Rechtsausübung. So hat der X. Senat des BGH in seinem Urteil vom 08.06.2004 (Az. X ZR 173/01) entschieden, dass das Zurückbehaltungsrecht nur der Sicherung eigener Ansprüche dient und seine Ausübung unter anderem dann ausgeschlossen ist, wenn der Schuldner wegen einer unverhältnismäßig geringen Forderung die gesamte Leistung zurückbehalten will. Der VIII. Senat des BGH sah im vorliegend besprochenen Fall hinsichtlich der Diskrepanz zwischen Bagatellschaden und Kaufpreis auf Seiten des Käufers keine unzulässige Rechtsausübung. Eine tiefergehende Begründung hierzu enthält das Urteil nicht. Es wird lediglich mit einem Pauschalsatz und im Hinblick auf das Urteil des X. Senats aus 2004 ausgeführt, dass das Zurückbehaltungsrecht nicht in einer gegen Treu und Glauben verstoßenden Weise ausgeübt werden darf.Rechtsanwalt Rainer Bopp

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