Neue Lösungen im Automobilhandel: Die Zeit ist reif!

Ich habe einen der coolsten Jobs der Welt", sagte die neue Marketingchefin von BMW, Hildegard Wortmann im Handelsblatt vom 17. Mai 2016 zu ihrer neuen Aufgabe, "aber in einer der konservativsten Branchen, die es gibt." Wie wahr! Und das zu Beginn des digitalen Zeitalters, wo Start-up-Mentalitäten mit Leidenschaft gefragt sind. Was sofort die Fragen aufwirft: Gereicht der Branche - und zwar der gesamten Automobilindustrie einschließlich der Zulieferer und nicht zuletzt des Handels - ihre konservative und im Kern stark bewahrende Grundeinstellung nicht zum Nachteil? Wird sie ihr gar zum Verhängnis, wenn es vor dem Hintergrund neuer Rahmenbedingungen mit dem Einzug der Digitalisierung darum geht, von alten Verhaltensmustern Abschied zu nehmen und einschneidende Veränderungen einzuleiten? Der Blick über den Tellerrand Erinnern wir uns: Nokia war einst Weltmarktführer bei Mobiltelefonen und fühlte sich unangreifbar. Das Nokia 1100 ist mit weltweit über 250 Millionen Geräten zwar immer noch das meistverkaufte Handy auf diesem Planeten. Was hat das Nokia geholfen? Nichts. Denn neue Player - allen voran Apple - hatten erkannt, dass sich mit dem Handy mehr machen lässt als nur zu telefonieren und dass man mit neuen Ideen nicht nur neue Kunden begeistern, sondern auch eine hohe zusätzliche Wertschöpfung erzielen kann. Mit ihren Smartphones haben sie den Markt neu definiert und sich ein enormes Wachstumspotenzial erschlossen. Agfa und Kodak sind weitere Beispiele von einstigen Weltmarktführern, die zu lange an überkommenen Geschäftsmodellen festgehalten haben und inzwischen vom Markt verschwunden sind. Der Sprung zum Auto Davon sind die traditionellen Automobilhersteller natürlich weit entfernt. Allerdings gibt es auch in ihren Gefilden mit Tesla einen neuen Player, der von den Medien und in den Talkshows als die Innovationscompany schlechthin hochstilisiert wird. Schaut man hinter die Kulissen, dann schrumpft vieles auf Normalmaß. Sonst wäre die Daimler AG aus ihrer Beteiligung an den Kaliforniern auch sicher nicht wieder ausgestiegen. Trotzdem schafft es Tesla mit cleveren Marketingbotschaften, Kunden und Interessenten zu vermitteln, dass es bei seinen Autos um mehr als nur das Fahren geht. Was macht Tesla anders als die etablierten Hersteller? - Das Unternehmen setzt zum einen konsequent auf den Elektroantrieb und trifft damit voll den Zeitgeist. - Zum anderen baut Tesla seine Autos rund um die Software und orientiert sich dabei ohne Wenn und Aber an den Bedürfnissen der Kunden. Ein neues Geschäftsmodell, das auf den Daten im Auto und den Schnittstellen zu dessen Nutzern basiert, ist die klar erkennbare Zielsetzung des Unternehmens. Seit klar ist, dass es auch Apple und Google auf die Autos abgesehen haben, müssen sich die etablierten Hersteller eingestehen, dass sie angreifbarer werden und deshalb umdenken müssen. Das drückt sich bisher vor allem darin aus, dass jeder versucht, ein bisschen Apple oder Google & Co. zu sein und sich die Digitalisierung des Automobils auf die Fahnen schreibt. Internet-Vertrieb, Connected Car, autonome Autos und neue Mobilitätsformen stehen bereits auf Startposition. Technisch müssen sich Hersteller wie Audi, BMW, Daimler oder Volkswagen mit ihrer ausgeprägten Ingenieurskunst sicher nicht verstecken. Hochkomplexe autonom fahrende und digital vernetzte Autos befinden sich bei ihnen längst in der Erprobung. Aber selbst diese Innovationen kann sich die neue Konkurrenz zu großen Teilen auch am Zulieferermarkt beschaffen oder durch Kooperationen erschließen - wie es jüngst Google mit FIAT Chrysler getan hat. Die Gefahr für das automobile Establishment ist unübersehbar. Erkannt haben sie inzwischen alle, gebannt ist sie damit noch lange nicht. Grundlegende Fragen und Weichenstellungen Neue Herausforderungen bringen auch die Mobilitätsstrategien mit sich, die die Vorstände der großen Konzerne mit Car-Sharing-Konzepten, integrierten Reiseportalen oder neuerdings der Beteiligung an Fahrdiensten wie Volkswagen an Gett, Toyota an Uber oder GM an Lyft vorantreiben. Der Versuch, sich vom klassischen Autobauer zum integrierten Mobilitätsdienstleister zu entwickeln, setzt allerdings in erster Linie einen veränderten Umgang mit den Bedürfnissen des digital vernetzten Kunden voraus. Dafür wiederum müssen unter anderem die Vertriebsprozesse in den automobilen Geschäftsmodellen neu ausgerichtet werden. Das sagt sich leichter, als es getan ist. Noch zerbrechen sich die Hersteller den Kopf darüber, was der richtige Weg sein könnte: - Ist es die grundlegende Restrukturierung, aber grundsätzliche Beibehaltung des etablierten, seit Jahrzehnten letztlich unveränderten Vertriebssystems mit der bestehenden Handelsorganisation? - Oder ist - wie manche Hersteller glauben - der Aufbau neuer Vertriebswege (Internethandel über digitale Plattformen wie Daimler mit mercedes-me oder Hyundai mit Rockar) und neuer Vertriebsformen (Cyberstores, Pop-up-Stores, Fuck-upnights) die Lösung - vorbei am heutigen Handelssystem, das dadurch auf Dauer überflüssig wird? Fehlende Antworten Eine klare Antwort auf diese Fragen kann derzeit niemand geben. Sie wird aller Voraussicht nach jedoch so ausfallen: Das eine zu tun, ohne das andere zu lassen - denn das verspricht den größten Erfolg. Die etablierten Hersteller verfügen mit ihren Händlern bereits heute über eine vertriebliche Infrastruktur, die die neuen Player meist erst noch aufbauen müssten. Denn ganz ohne ein Netz und einen stationären Vertrieb wird es nicht gehen. Das zeigen die Aktivitäten der Internetkonzerne wie z. B. Apple oder Amazon und ihre Bemühungen, neben ihrem Onlinevertrieb ganz gezielt auch Outlets aufzubauen. Die heutige Aufstellung mit der bestehenden Kooperation von Autoindustrie und Handel könnte sich vor diesem Hintergrund als ein großes Asset erweisen. Entscheidend kommt es - in welchem Modell auch immer - aber darauf an, die Schnittstelle zu den Kunden nicht zu verlieren, sondern sie im Gegenteil kontinuierlich auf digitaler Basis weiterzuentwickeln und zu optimieren. Denn wenn es den sogenannten Outthinkern mit der leidenschaftlichen Kraft der Start-ups gelingt, den digital vernetzten Kunden von außen zu erreichen, seine Bedürfnisse zu erkennen und zu decken, werden sie auch die zukünftigen Wege im Vertrieb bestimmen. Hersteller und Handel sollten sich deshalb gemeinsam darauf besinnen, die Vorteile des bestehenden Systems für die Zukunft zu nutzen, die Rivalitäten und Abgrenzungen der Vergangenheit zu beenden und sich stattdessen an einen Tisch setzen und die digitalen Anforderungen in ein zukunftsfähiges Geschäftsmodell integrieren. Genau an dieser Stelle stockt es jedoch oder schlimmer noch, es wird schlichtweg nichts getan. Aktionismus statt durchdachter Zukunftskonzepte Stattdessen bestimmt derzeit aber vor allem Aktionismus das Geschehen. Die laufenden Initiativen der Hersteller erweisen sich bei kritischer Betrachtung indes vielfach als Versuchsballons oder bestenfalls als Vorsorgemaßnahmen, nicht jedoch als wohldurchdachte Zukunftskonzepte. Daimlers Kopf, Dieter Zetsche, sieht in dem laufenden Prozess gar die Notwendigkeit einer Rückkehr zu den unternehmerischen Wurzeln und verlangt nach mehr Pioniergeist. "Wir haben an vielen Stellen Strukturen geschaffen, wie sie Daimler und Benz in ihren Start-ups vor 130 Jahren hatten." Er hat dabei offensichtlich völlig außer Acht gelassen, dass damals die Händler das wichtigste und im Grunde auch einzige Bindeglied zum Kunden waren. In die derzeit laufende aktuelle Zukunftsarbeit werden sie trotzdem kaum eingebunden. Fast kann man den Eindruck gewinnen, das bestehende Vertriebsmodell wäre bereits abgeschrieben. Einbindung des Handels Die Handelsseite zeigt andererseits leider auch keinerlei Aktivitäten, sondern gibt vor allem vielsagende Statements ab. Der gerade in seinem Amt bestätigte Vorsitzende des Mercedes-Benz Händlerverbands, Dr. Peter Ritter, machte bei seinem Antritt als einer der wenigen, die überhaupt zu diesem Thema etwas sagen, zwar deutlich, dass auch die Händler davon überzeugt sind, dass die Digitalisierung viele Veränderungen mit sich bringe, "auf die wir uns vorbereiten müssen und die wir mitgestalten wollen". Auf ihre Einbindung und Mitgestaltung angesprochen, antworten seine Vertreterkollegen allerdings: "Wir wissen davon noch nichts". Anders geht das Audi-Management vor. Es setzt sich mit ausgewählten Händlern - übrigens nicht aus dem Händlerverband - regelmäßig zusammen und arbeitet gemeinsam an den Zukunftsthemen. Wenn in Zukunft die Wertschöpfung unserer Branche tatsächlich außerhalb des Autos über monetarisierte Kundenkontakte "in ungeahnten Größenordnungen" (Quelle: ITF, Wolfsburg) stattfindet, dann muss der Handel sich daran beteiligen - sonst ist er weg vom Fenster. Derweil befasst er sich noch mit eher kleinen digitalen Themen - unter anderem, wie der Kunde über das Internet einen Werkstatttermin buchen kann. Aber selbst das bekommen einige nicht geregelt. Letztlich zeigt dieses Beispiel aber, wo die digitale Entwicklung im Handel tatsächlich steht. Zusammenfassung und Ausblick Zusammengefasst kann die Lage zu Beginn des digitalen Zeitalters in der Autobranche so beschrieben werden: Jeder beschäftigt sich mit sich selbst, aber kaum einer mit dem jeweils anderen und auch nicht wirklich mit der Sache. Dabei wissen alle, dass die Digitalisierung die von den Herstellern und den Händlern errichteten Branchengrenzen niederzureißen droht. Die Veränderungen, die sich am Horizont abzeichnen, sind gravierend. Die Stärken des heutigen Vertriebssystems, aber auch seine Schwächen liegen auf der Hand. Jeder der Beteiligten muss deshalb endlich ein Stück auf den anderen zugehen, tradiertes Verhalten ändern und sich in einer Art Ideenschmiede mit den digitalen Herausforderungen nicht nur beschäftigen, sondern Schritt für Schritt auch zu Lösungen gelangen. Im Kern geht es dabei vor allen darum, heutige Systembrüche und Prozessknoten zwischen Hersteller und Händler zum Kunden zu überwinden. Vielmehr müssen die Kunden mit ihren Daten in das Zentrum des Geschäftsmodells gerückt und um sie herum die dafür notwendigen Prozesse definiert und neu gestaltet werden. Egoismus oder die Verteidigung von in der Vergangenheit erworbenen Pfründen sind dabei fehl am Platz. Die Einstellung, die Kundendaten gehören mir, ist als Erstes zu verändern. Prozessintegration ohne Wenn und Aber ist stattdessen der voraussichtlich richtige Lösungsansatz, dann muss es heißen: Die Kundendaten nutzen wir gemeinsam. Das bedeutet nichts weniger als die vollständige Integration aller zwischen Hersteller, Händler und Kunde laufenden Prozesse und Daten. Nur über eine durchgängige Systempartnerschaft zwischen Herstellern und Handel können die heute bestehenden Lücken geschlossen und Defizite beseitigt werden. Gestützt darauf kann dann der digitale Aufbruch gemeinsam organisiert werden. Schulterschluss für das Geschäftsmodell der Zukunft Die besten Voraussetzungen für eine umfassende Prozessintegration bieten intelligente Vertriebsmodelle zwischen gleichberechtigten Partnern. Die Gruppenfreistellungsverordnung wird mittelfristig wahrscheinlich den Vertrieb nicht mehr bestimmen. Sie passt mit ihren Restriktionen einfach nicht mehr in die liberale Welt der Digitalisierung. Entweder völlig offene Vertriebssysteme oder ausgewogen gestaltete Franchise-Systeme sind sicherlich die Zukunft. Der in diesem Zusammenhang immer wieder beschworene Verlust an unternehmerischer Selbstständigkeit des Handels ist begrenzt und fällt angesichts der enormen Vorteile eines solchen Schritts kaum ins Gewicht. Höchste Zeit deshalb, sich diesem Thema konzertiert und mit dem klaren Blick nach vorne zu widmen. Im digitalen Umfeld ist für den notwendigen Neubeginn der Begriff "Disruption" entstanden. Mit Disruption wird ein Prozess bezeichnet, bei dem ein bestehendes Geschäftsmodell oder auch ein gesamter Markt durch eine stark wachsende Innovation abgelöst - oder wörtlich übersetzt - zerschlagen wird. So hart muss es im Automobilhandel nicht kommen, wenn Hersteller und Handel endlich die Themen im engen Schulterschluss anpacken und die Weichen für einen gemeinsamen Weg in das Digitalisierungszeitalter stellen. Die neue Welt braucht die Erfahrung der alten Welt verbunden mit Innovationsgeist aller Beteiligten. Walter Missing Der Autor Walter Missing kennt den Autohandel seit Jahrzehnten aus Hersteller- und aus Handelssicht. Mit seiner Unternehmensberatung "Missing Management" hat er sich auf die Sanierung und Restrukturierung sowie die Management-Vermittlung im Automobilhandel fokussiert und begleitet Unternehmensverkäufe auf der Verkäufer- und auf der Käuferseite. www.missingmanagement.com Kurzfassung Branchenexperte Walter Missing findet, dass es höchste Zeit für Hersteller und Handel ist, für das digitale Zeitalter gemeinsam ein intelligentes Geschäfts- und Vertriebsmodell neu zu entwickeln - wenn man die heute noch existierende Systemführerschaft im Vertrieb nicht an Internetunternehmen verlieren will.

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