Von Andreas Hoenig und Marco Hadem, dpa
Das denkmalgeschützte VW-Hochhaus in Wolfsburg mit dem riesigen Logo ist eingerüstet: Eine dringend nötige Sanierung macht die 1958 errichtete Konzernzentrale zu einer Großbaustelle, seit Monaten. Unfreiwillig wird das 73 Meter hohe Gebäude damit zu einem Symbol für die schwerste Krise in der Konzerngeschichte. 2015 war für Volkswagen ein "annus horribilis" - ein schreckliches Jahr. "Unser Ruf ist jetzt erstmal ruiniert", wird im Konzern zähneknirschend die Situation zum Jahresende bewertet. Eine Aussage, die vor einem Jahr noch mehr als unvorstellbar war. Denn lange Zeit kannte das Selbstbewusstsein in Wolfsburg keine Grenzen.
2015 hat in der VW-Welt alles verändert. Und es brachte ein neues Wort: "Dieselgate". Das klingt nach "Watergate", der Affäre, die am Ende den US-Präsidenten Richard Nixon zu Fall brachte. Drunter geht es bei VW nicht. Der Mythos des größten deutschen Industriekonzerns, des Erbauers von "Käfer" und "Golf", ist schwer beschädigt.
Dabei fing das Jahr gut an. Im Januar verkündet der Konzern stolz, erstmals die Marke von zehn Millionen verkauften Fahrzeugen geknackt zu haben. VW ist damit nur noch hauchdünn hinter Weltmarktführer Toyota zurück. Die Japaner sind als Branchenführer der Erzrivale, VW will den Thron als weltgrößter Autokonzern - so sieht es die «Strategie 2018» vor. Aufgestellt hat sie Martin Winterkorn, der langjährige VW-Vorstandschef.
Zur "Strategie 2018" gehören noch andere Ziele: VW will auch das ökonomisch weltweit führende Automobilunternehmen werden - und das ökologischste. Auf zwölf Marken ist das VW-Imperium seit Winterkorns Amtsantritt 2007 angewachsen, der Konzern hat weltweit mehr als 600.000 Beschäftigte - streng zentralistisch und hierarchisch aus Wolfsburg geführt. Und aus Salzburg, wo der mächtige VW-Aufsichtsratschef Ferdinand Piëch sein Büro hat. Zumindest bis Ende April haben damit bei VW zwei Männer das Sagen. Unangefochten stehen sie an der Spitze.
"Ich bin auf Distanz"
Jetzt am Ende des Jahres haben sie längst ihre Posten verloren. Denn schon lange vor "Dieselgate" liefert VW der Öffentlichkeit im Frühjahr drei Wochen lang einen beispiellosen Machtkampf in der Führungsspitze. Auslöser sind sechs Worte von VW-Patriarch Piëch: "Ich bin auf Distanz zu Winterkorn", sagt er am 10. April dem "Spiegel", und löst damit ein mittleres Erdbeben in Wolfsburg aus. Das über Jahre alles bestimmende Führungsduo Winterkorn und Piëch ist damit gespalten. Niemand kann sich vorstellen, dass dieser Riss je wieder repariert werden kann. Zu groß sind Piëchs Zweifel an seinem Ziehsohn Winterkorn. Mit der Expansion sind auch hausgemachte Probleme gewachsen. Dazu zählt neben der Ertragsschwäche der Kernmarke VW vor allem die Misere auf dem US-Markt, auf dem die Wolfsburger trotz aller Anstrengungen nur eine unbedeutende Rolle spielen. Zu wenig für das Weltmarktführer-Streben.
Bislang hat "der Alte" noch jeden Machtkampf für sich entschieden. Dieses Mal aber zieht er den kürzeren. Eine Allianz aus dem Land Niedersachsen und dem bei VW mächtigen Betriebsrat stützt Winterkorn. Und auch sein Cousin Wolfgang Porsche wendet sich von Piëch ab. Hinter den Kulissen fliegen die Fetzen, alte Rechnungen werden beglichen, Krisensitzungen gehen praktisch nahtlos ineinander über. Dem 78-jährigen Piëch bleibt nur der Rücktritt - das Ende einer Ära.
Winterkorn sitzt danach fest im Sessel, der Vertrag des 68-Jährigen soll sogar verlängert werden. Der Vorstandschef will den Konzern nun reformieren. Marken und Regionen sollen mehr Verantwortung bekommen. Und VW muss stärker auf die beiden wichtigsten Zukunftstrends setzen: alternative Antriebe und den digitalen Wandel mit immer mehr Internet im Auto. "Immer höher, schneller, weiter reicht nicht. Technologische Führerschaft definiert sich nicht mehr nur über PS und Drehmoment", sagt Winterkorn im September zum Auftakt der Leitmesse IAA.
Dann platzt die Bombe
Kurz danach platzt die Bombe. Es ist der 18. September. US-Behörden werfen VW vor, massiv gegen Klimaschutzregeln verstoßen zu haben. Der Autobauer soll mit einer illegalen Software, einem "Defeat Device", Abgastests manipuliert haben, um die Grenzwerte beim Ausstoß des gesundheitsschädlichen Stickoxids (NOx) einzuhalten. Noch am selben Wochenende gibt Volkswagen die Vorwürfe zu. Verglichen mit dem April-Beben sei der Diesel-Skandal eine "große Detonation", "eine Eruption" gewesen, heißt es rückblickend aus der Zentrale. Denn nun geht es nicht mehr um Namen und Posten. Die Zukunft des einstigen Branchenprimus scheint ins Wanken gekommen, sogar das Qualitätssiegel "Made in Germany" angekratzt zu sein.
Wie konnte das passieren? In den Jahren 2005 und 2006 hat VW massive Absatzprobleme in den USA. Erzrivale Toyota mit seiner Hybridtechnik ist auf dem US-Markt viel erfolgreicher. VW will auf den Diesel setzen, auf einen sauberen: "Clean Diesel" lautet der Slogan. Die Wolfsburger Vorgabe lautet: Sauber, aber nicht zu teuer. Doch das ist technisch für die Ingenieure nicht zu schaffen. Die USA haben strengere Stickoxid-Grenzwerte als Europa. Anders als in Europa ist der Selbstzünder in den USA als dreckig verschrien. Die Lösung ist am Ende so simpel wie verhängnisvoll: Dank einer versteckten Manipulations-Software können die Autos die Grenzwerte zumindest auf dem Prüfstand einhalten. "Diesel-Gate" ist geboren.
Winterkorn kämpft nach dem Platzen der Abgas-Bombe noch um sein Amt, will von allem nichts gewusst haben. In einem Video bittet er um Entschuldigung und verspricht schonungslose Aufklärung. "Ich gebe Ihnen mein Wort." Doch der 68-Jährige macht einen fast hilflosen Eindruck. Schweißperlen stehen ihm auf der Stirn. Ein großer Rhetoriker war er nie. Viele fragen sich, wer ihn da beraten hat. Einen Tag später muss Winterkorn zurücktreten. Der wichtigste VW-Machtzirkel, das Präsidium des Aufsichtsrats, entzieht ihm das Vertrauen. Winterkorn übernimmt die Verantwortung für den Skandal, weist aber darauf hin, dass er sich keines Fehlverhaltens bewusst sei. Seitdem ist Winterkorn öffentlich abgetaucht.
Kulturwandel ausgerufen
Sein Nachfolger wird Porsche-Chef Matthias Müller - und damit der ursprüngliche Favorit Piëchs im Frühjahr. Zufall? Der 62-jährige Müller muss sich von Beginn an als Krisenmanager bewähren. Schon früher war er als unabhängiger Kopf im Konzern bekannt. Er holt Vertraute von Porsche nach Wolfsburg und verspricht, den bereits von seinem Vorgänger ausgerufenen "Kulturwandel" voranzutreiben. Auch mit klaren Worten spart er nicht: "Kein Geschäft der Welt rechtfertigt es, gesetzliche und ethische Grenzen zu überschreiten", sagt er in einer Rede vor Führungskräften in Wolfsburg.
Trotzdem versinkt Volkswagen immer tiefer im Abgas-Sumpf. In elf Millionen Fahrzeugen weltweit ist die berüchtigte Software eingebaut. Der Aktienkurs geht auf Talfahrt. Nur scheibchenweise rückt VW mit der Wahrheit heraus, weltweit interessieren sich Juristen für die Affäre. Anwälte wittern Geschäfte. Es drohen Milliarden-Strafen. Mehrere Manager und Ingenieure bei VW, Audi und Porsche werden beurlaubt. Doch die großen Bosse wollen von nichts gewusst haben. "Einige wenige" hätten das ganze verzapft, heißt es.
Anfang November dann der nächste Tiefschlag: VW teilt mit, auch bei CO2-Angaben falsche Angaben gemacht zu haben. 800.000 Autos sind betroffen. Im Klartext: Die Fahrzeuge pusten mehr klimaschädliches Kohlendioxid (CO2) aus als der Hersteller angegeben hat. Es ist der nächste Schock. Der Konzern wirkt wie gelähmt.
Und als reiche dies nicht aus, gerät Ende November auch noch die VW-Tochter Audi in den Sog des Skandals. In 3,0-Liter-Motoren in den USA sei eine Software eingebaut, die als "Defeat Device" eingestuft werde, teilt die US-Umweltbehörde EPA mit. Dies wird in Wolfsburg auch deshalb als besonders ärgerlich angesehen, weil der Konzern die Vorwürfe zunächst als unzutreffend zurückgewiesen hatte. Muss nun auch Audi-Chef Rupert Stadler um seinen Job bangen?
Investitionen auf dem Prüfstand
Fragezeichen gibt es noch viele. Immerhin kann VW nun erste technische Lösungen für den europäischen Markt verkünden. Neben einer neuen Software soll bei einigen Aggregaten auch ein neues Kunststoffrohr die Abgase legalisieren. Lösungen für den US-Markt sind noch in der Absprache, sollen aber auch bald kommen. Vieles aber ist weiter unklar. Wer wusste wann von den Manipulationen? Wer hat sie in Auftrag gegeben? Und wie sehr hat die spezielle VW-Kultur zu den Fehlern beigetragen?
Fest steht: Es wird teuer für VW, richtig teuer. Branchenschätzungen gehen von einem Schaden von 20 bis 30 Milliarden aus, manche gehen noch darüber hinaus. Existenzbedrohend dürfte das aber nicht sein, VW hat in den fetten Jahren riesige Kapitalreserven zurückgelegt. Trotzdem stellt Müller alle Investitionen auf den Prüfstand. Große Streichungen kann er bei der Präsentation für 2016 nicht verkünden - die Botschaft aber lautet: VW fährt ab sofort auf Sicht. Nur unverzichtbare Investitionen sollen auf den Weg gebracht werden.
Intern ist die Stimmung weiter angespannt. Zwar müht sich der Konzern um Boden unter den Füßen, doch selbst aus der Kommunikationszentrale heißt es, auf die Frage, ob nun mit keinen weiteren Skandalen zu rechnen sei: "Das würde ich gerne mit 'ja' beantworten, aber ich tue mich schwer, das verlässlich zu sagen."
Seitens der Mitarbeiter ist es ruhig. Das mag damit zusammenhängen, dass bislang alle Verantwortlichen bemüht sind, Gerüchte über personelle Konsequenzen oder Kurzarbeit im Keim zu ersticken. Doch im SPD-geführten Bundesarbeitsministerium wird schon an einer möglichen Übergangsregelung beim Kurzarbeitergeld gearbeitet - nur für den Fall der Fälle, heißt es.
Und wie reagieren die Kunden? Bislang hat es keine massiven Absatzeinbrüche gegeben. Die Rechnung könnte VW aber erst mit Verzögerung präsentiert werden. In vielen Ländern vergehen zwischen Bestellung und Auslieferung Wochen, wenn nicht Monate. Ein Vertrauensentzug der Kunden wäre das Schlimmste für VW. Dann wären die Fabriken des Riesenkonzerns nicht mehr ausgelastet, VW hätte zu viel Beschäftigte an Bord und auch 2016 würde ein schlimmes Jahr.