Von Hanne Schweitzer/SP-X
Nutzfahrzeuge sind technologisch auf der Überholspur unterwegs, das kann man einmal mehr an den Innovationen der diesjährigen IAA (20. bis 27. September) in Hannover ablesen. Außenspiegel statt Kameras, autarke Anhänger, elektrische Lieferwagen oder teilautonome Brummis: Wie es morgen und übermorgen auf Europas Straßen aussieht, wird unter dem Hermesturm zu sehen sein.
Wer bei der vergangenen IAA Nutzfahrzeuge auf dem Messegelände zu Gast war, erinnert sich womöglich an diverse Konzeptstudien elektrischer Transporter. Jetzt nehmen die Stromer auf breiter Front Fahrt auf: Die Orderbücher für den e-Crafter von Volkswagen Nutzfahrzeuge sowie für den darauf basierende MAN eTGE öffnen sich noch im September, der direkte Konkurrenz Mercedes e-Sprinter kommt 2019 auf den Markt, ebenso wie die elektrische Version des kleineren Vito.
Ebenfalls im nächsten Jahr bringt Ford den elektrisch angetriebenen Ford Transit Custom mit Dreizylinder-Benziner als Range-Extender. DHL-Tochter Streetscooter stellt auf der Messe den neuen Work XL vor. Bereits erhältlich sind neue Modelle wie Renault Master Z.E. oder Iveco Daily Electric. Leise und ohne lokale Emissionen sollen die alternativen Antriebe eine Lösung für Transportprobleme in Städten bieten. Zielgruppen sind besonders KEP-Dienste (Kurier-, Express- und Paket-Dienste) sowie Handwerker und Lieferanten, die jederzeit in innerstädtischen Zonen fahren müssen – auch, wenn Städte Ernst machen mit Fahrverboten.
Entlastung für gestresste Paketboten
Wie dem steigenden urbanen Transportaufkommen zu begegnen ist, zeigt auf andere Weise unter anderem Zulieferer ZF und bietet mit dem elektrischen und autonomen Prototypen des "Innovation Van" eine Entlastung für die gestressten Paketboten. Liegen zwei Adressen so nah beieinander, dass der Zusteller den Weg schneller zu Fuß zurücklegt, lässt sich der Transporter per Tablet fernsteuern und folgt dem Auslieferer wie von Geisterhand. Findet der Paketbote keinen Parkplatz, steigt er an der Lieferadresse einfach aus und schickt den Innovation Van alleine zur nächsten Haltemöglichkeit.
IAA Nutzfahrzeuge 2018 - Vorschau
BildergalerieDie Elektrifizierung hält auch bei den schweren Nutzfahrzeugen Einzug. Lkw-Hersteller Volvo startet im kommenden Jahr den Verkauf von Elektro-Lkw, ein erstes Serienfahrzeug präsentieren die Schweden auf der IAA. Der dort gezeigte Volvo FE Electric ist ein 27-Tonnen-Abfallentsorgungsfahrzeug, das von zwei Elektromotoren mit 260 kW / 354 PS Dauerleistung angetrieben wird, maximal 200 Kilometer weit.
Konkurrent Scania bringt einen Lastwagen mit Plug-in-Hybridantrieb mit und 2019 in den Verkauf. Der Truck für den Verteilerverkehr soll im reinen Elektromodus rund zehn Kilometer weit kommen und gegenüber einem konventionellen Antrieb 15 Prozent weniger verbrauchen. MAN zeigt neben einem vollelektrischen Verteiler-Lkw, dem MAN eTGM, auch einen elektrisch angetriebenen Stadtbus-Prototypen mit Reichweiten von bis zu 200 Kilometern. Da der Antriebsstrang unterflurig platziert ist, gibt es hinten im Bus Platz für bis zu vier zusätzliche Sitzplätze. Auf den Markt kommt der Bus allerdings erst im dritten Quartal 2020.
Auch die Zulieferer treiben den Wechsel zur Elektromobilität voran: ZF bietet beispielsweise Systeme zum Umrüsten an, über die sich Fahrzeugflotten wirtschaftlich und komfortabel elektrifizieren lassen sollen: Die Elektroportalachse AxTrax AVE und der neue Elektroantrieb CeTrax, der sich für Stadtbusse und Verteiler-Lkw eignet, können in bestehende Fahrwerksplattformen integriert werden. Bosch elektrifiziert nicht die Zugmaschine, sondern den Auflieger. Anstatt die Achsen des Anhängers wie bisher einfach nur rollen zu lassen, integriert der Zulieferer dort eine elektrische Maschine. Dadurch lässt sich beim Bremsen Energie gewinnen, die wiederum Aggregate des Lastzuges versorgt – beispielsweise bei einem Kühlanhänger. Das bringt Spritersparnis – laut Bosch soll sich das System in weniger als zwei Jahren amortisieren – und auf dem Betriebshof kann der Anhänger künftig ohne Zugmaschine rangieren.
Kampf dem Toten Winkel
In den vergangenen Wochen hat das Verkehrsministerium die Problematik des Toten Winkels wieder ins Gespräch gebracht. Dass Assistenzsysteme beim Lkw im Kommen sind, kann man auch auf der IAA sehen. Mittels künstlicher Intelligenz will Continental das Rechtsabbiegen der Lkw sicherer machen. So ausgestattet soll das Assistenzsystem in wenigen Jahren eine Verkehrssituation interpretieren, den Fahrer warnen oder von allein notbremsen. Vorher kommt aber die zweite Generation des Rechtsabbiegeassistenten auf den Markt, die Radar- und Kamerasensoren kombiniert. Beide neuen Varianten zeigt der Zulieferer in Hannover.
Ebenfalls künftig zur Sicherheit beim Rechtsabbiegen und zur besseren Übersicht beitragen sollen Kameras, die die Außenspiegel ersetzen. Wenn der ab der Messe bestellbare Mercedes Actros im Frühling 2019 ausgeliefert wird, ist er der erste Serien-Lkw mit dieser Technik. Das System besteht aus zwei außen am Fahrzeug angebrachten Kameras und zwei 15-Zoll-Displays innen an den A-Säulen, auf die das Kamerabild übertragen wird. Mit einer speziellen Rangieransicht für das Rückwärtsfahren mit Trailer, Nachtsicht-Modus für die Dunkelheit und einer schnellen Aktivierungsmöglichkeit bei Verdacht auf Ladungsdiebstahl unterstützt das System den Fahrer zusätzlich. Auch bietet der Wegfall der Spiegel aerodynamische Vorteile, was unter anderem für eine Verbrauchsreduzierung von bis zu fünf Prozent sorgen soll.
Eine weitere Premiere: Bestseller Actros beherrscht als erster Lkw das autonome Fahren auf Level zwei (von fünf). So kann der Lastwagen teil-autonom über die Autobahn rollen, ob im Stop-and-Go eines Staus oder bei Höchstgeschwindigkeit. Wie beim Pkw muss der Fahrer aber eine Hand am Lenkrad haben und jederzeit eingreifen können. Zwecks Kraftstoffeinsparung passt die Technik zudem die Fahrweise auf Autobahnen und Landstraßen an die Topographie an, so dass der Antriebsstrang Gefälle, Steigungen, Kurven oder Kreisverkehre und Kreuzungen berücksichtigt werden. Das Bosch-System "Elektronischer Horizont" lernt bei jeder Fahrt dazu und korrigiert, wenn die gespeicherten Informationen nicht mehr mit den tatsächlichen Gegebenheiten auf der Straße übereinstimmen. werden minimiert.
Für viele dieser Funktionen sind die modernen Nutzfahrzeuge, ebenso wie die Pkw, natürlich längst an das Internet angebunden. Damit ist bei technischen Problemen eine Ferndiagnose, aber auch das Aufspielen von Updates „over-the-air“ möglich, so dass Ausfallzeiten minimiert werden. Aber auch zum Komfort des Brummifahrers trägt die Vernetzung bei. Beim Mercedes Actros beispielsweise sollen spezielle Apps den Fahreralltag vereinfachen, indem er für Funktionen etwa vom Kühl-Auflieger keine Extra-Fernbedienung benötigt, sondern sie über eine Anwendung auf dem Touchscreen im Fahrzeug bedient.
Smartphone als Lkw-Schlüssel
Nach einer Vision von Bosch kann das Smartphone des Fahrers künftig auch als Lkw-Schlüssel fungieren. Wie bei aktuellen schlüssellosen Start-Systemen erkennt das Fahrzeug ein sich näherndes Handy über dessen Funk-Signatur, entriegelt die Türen und gibt den Start-Knopf frei. Das soll Fahrer- und Fahrzeugwechsel deutlich vereinfachen. Um die oft händeringend gesuchten Lkw-Fahrer kann sich der spendierwillige Spediteur auch in anderer Hinsicht kümmern: Zulieferer Faurecia stellt in Hannover einen Sitzbezug vor, der eine ganze Reihe von Gesundheits-Sensoren integriert. Sie erfassen unter anderem Herzfrequenz und Atmung des Fahrers, eine App auf seinem Handy nimmt die Analyse vor und regt Verbesserungen an.