Von Christian Brahmann und Michael Evers, dpa und Marco Engemann, dpa-AFX
Volkswagen hat angesichts der Militäroffensive der Türkei in Nordsyrien den Beschluss für eine neue Fabrik nahe Izmir verschoben. "Die Entscheidung für das neue Werk wurde vom Vorstand der Volkswagen AG vertagt", teilte ein Konzernsprecher am Dienstag mit. Das Unternehmen beobachte die gegenwärtige Lage sorgfältig und blicke mit Sorge auf die derzeitige Entwicklung. Zuvor hieß es lange Zeit, dass man in finalen Verhandlungen sei. Vieles deutete daraufhin, dass sich die Türkei als Standort etwa gegen Bulgarien durchsetzen würde.
Seit vergangenem Mittwoch gehen türkische Truppen mit verbündeten Rebellen gegen die Kurdenmiliz YPG in Nordsyrien vor. Ankara betrachtet die YPG als Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit als Terrororganisation. International stoßen die Angriffe der Türkei auf harsche Kritik.
Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil geht angesichts der aktuellen Lage derzeit nicht vom Bau eines neuen VW-Werkes nahe Izmir aus. "Die Bilder, die wir aus Nordsyrien sehen, sind entsetzlich", sagte der SPD-Politiker, der auch im Volkswagen-Aufsichtsrat sitzt, am Dienstag in Hannover. Die Militäroffensive sei ein offensichtlicher Bruch des Völkerrechts, die eine enorme Flüchtlingswelle und eine allgemeine Verschärfung der Sicherheitslage ausgelöst habe. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass Volkswagen unter diesen Bedingungen in der Türkei eine Milliardeninvestition vornimmt", sagte Weil.
Hoffnung auf Normalisierung
Der Politiker gab zu verstehen, dass es im Moment um einen Aufschub und keine komplette Absage der VW-Pläne in der Türkei gehe. "Die Verhandlungen sind zu dem Vorhaben nach wie vor nicht final abgeschlossen." Er hoffe, dass sich die Verhältnisse in der Türkei normalisierten. Die nächste Aufsichtsratssitzung sei für Mitte November geplant.
Von Volkswagen hieß es seit Wochen, dass man sich für ein geplantes Werk für den südosteuropäischen Raum in "finalen Gesprächen" befinde. Die Entscheidung dazu war zuletzt für Anfang bis Mitte Oktober erwartet worden. In dem Werk, für das ein Standort nahe der Metropole Izmir im Gespräch ist, sollen Fahrzeuge mehrerer Konzernmarken gebaut werden, unter anderem der VW Passat und der Skoda Superb. Volkswagen will mehr als eine Milliarden Euro investieren, die Kapazität soll bei mehr als 300.000 Fahrzeugen jährlich liegen.
Nach dpa-Informationen waren die Details für das Investment so gut wie festgezurrt. Den Ausschlag für ein Investment in der Türkei statt im EU-Land Bulgarien würde demnach die deutlich bessere Wirtschaftlichkeit des Projekts in der Türkei geben. Nicht zuletzt staatliche Subventionen sorgten im Zusammenspiel mit einer vorhandenen Zulieferindustrie und gut ausgebildeten Arbeitern für Vorteile bei einem Bau in der Türkei.
Die US-Regierung hatte jedoch zu Wochenbeginn angekündigt, Zölle auf den Import von türkischem Stahl deutlich zu erhöhen, Gespräche zu einem neuen Handelsabkommen abzubrechen und gegebenenfalls Sanktionen gegen Einzelpersonen zu erheben. Damit sowie mit möglichen Reaktionen anderer Handelspartner steht nun nicht mehr nur hinter der politischen Stabilität der Region ein großes Fragezeichen, sondern auch hinter der wirtschaftlichen Perspektive der Türkei.
Komplexe Planungen
Das kommt den Wolfsburgern sehr ungelegen. In einem Monat steht die neue Planungsrunde auf der Tagesordnung für den Konzernaufsichtsrat. In dieser legt Volkswagen sein milliardenschweres Investitionsbudget für die kommenden fünf Jahre fest. Regelmäßig ist auch die Werksbelegung mit Modellen und die Auslastung der Werksverbundes Thema. Die Planungen sind komplex: Weltweit hat Volkswagen mehr als 130 Werke. Ob die Situation sich bis Mitte November beruhigt und eine Investition in der Türkei dann sowohl wirtschaftlich als auch politisch weniger riskant sein kann, ist mindestens fraglich.
Volkswagen hat eine Entscheidung zum Bau eines Mehrmarkenwerkes für Osteuropa schon vor längerer Zeit getroffen. Da die Türkei dafür als möglicher Standort gilt, hatte es aufgrund der Menschenrechtslage im Land schon vor dem Beginn der türkischen Militäroffensive in Nordsyrien Kritik gegeben.
Winfried Schultze