Ausgabe 06/2011: Rechtliches Gehör

Rechtliches GehörExpertenstreit E Sich widersprechende Sachverständigengutachten im Prozess. Autohaus-Juristen Rechtsanwälte G. Haug & Partner Wenn es zu einem Rechtsstreit über die ordnungsgemäße Ausführung eines Reparaturauftrags oder die behauptete Mangelhaftigkeit eines verkauften Fahrzeuges kommt, wird in aller Regel vom erkennenden Gericht ein Sachverständigengutachten eingeholt. Ein Zivilgericht verfügt schließlich nicht über eine eigene fachliche Kompetenz, um in technischer Hinsicht zu einem klaren Ergebnis zu gelangen. Sehr häufig existieren hierbei vorprozessuale Gutachten, die von der einen oder anderen Partei bereits in Auftrag gegeben wurden. In einigen Fällen wird auch während des Laufes eines Prozesses über die Instanzen hinweg der anfänglich eingeschaltete gerichtliche Gutachter gewechselt. Beispielsweise weist dieser nicht die erforderliche Sachkunde auf oder es ist dessen Befangenheit zu befürchten. In nicht wenigen Fällen kommen die Gutachter zu vollkommen unterschiedlichen Ergebnissen mit maßgeblichem Einfluss auf den Ausgang eines Prozesses. Immer wieder setzen sich die Gerichte mit den unterschiedlichen sachverständigen Meinungen nicht in der gebotenen Art und Weise auseinander, sondern legen ihrer Entscheidung eine sachverständige Meinung zugrunde, ohne widersprechende Darlegungen eines anderen existierenden Gutachtens zu diskutieren. Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte sich in jüngster Zeit mehrfach und zuletzt im Urteil vom 7. Dezember 2010 (VIII ZR 96/10) mit dieser Spruchpraxis unter dem Blickwinkel der Verletzung rechtlichen Gehörs auseinanderzusetzen.Der FallIm April 2005 erwarb der Käufer bei einem Vertragshändler ein fabrikneues Fahrzeug. Im August 2006 erlitt dieses bei einer Fahrleistung von 55.000 km einen Motorschaden. Die vom Käufer beauftragte Werkstatt teilte mit, es läge ein Motorschaden wegen einer unzureichenden Ölversorgung vor. Der Käufer ließ das Fahrzeug bei dieser Werkstatt instand setzen. Bereits zwei Monate später und bei einem Tachostand von 58.000 km trat erneut ein Motorschaden auf. Auch dieser Motorschaden wurde von vorgenannter Werkstatt instand gesetzt. Für beide Reparaturen hatte der Käufer 5.474 Euro zu bezahlen. Im März 2007 blieb das Fahrzeug zum dritten Mal bei einem Stand von 66.000 km mit einem Motorschaden liegen. Der Käufer veranlasste keine weitere Reparatur, sondern trat nunmehr vom Kaufvertrag zurück. Zur Begründung führte er aus, die eingebauten Kolben seien untauglich für das von ihm erworbene Fahrzeug. Der Käufer verlangte die Rückzahlung des Kaufpreises sowie den Ersatz der von ihm verauslagten Reparaturkosten und erhob Klage zum zuständigen Landgericht (LG).Entscheidungen der ersten und zweiten InstanzDas LG gab der Klage nach Einholung eines Sachverständigengutachtens statt. Der Sachverständige hatte in seinem Gutachten ausgeführt, jedenfalls ein Kolben sei „in aufbautechnischer und struktureller Hinsicht als unzureichend“ und damit als mangelhaft zu bewerten. Die aufgetretenen Motorschäden seien auf diesen Mangel zurückzuführen. Auf diese Ausführungen stützte sich das LG in seinem Urteil, gegen das der Vertragshändler Berufung zum Oberlandesgericht (OLG) einlegte. Das OLG sah in dem Gutachten keine taugliche Entscheidungsgrundlage und beauftragte einen weiteren Sachverständigen. Dessen Gutachten kam zu einem diametral anderen Ergebnis. Hiernach wiesen die Kolben weder einen Konstruktions- noch einen Materialfehler auf. Nach Auffassung des zweiten Gutachtens lag vielmehr eine nicht dem Verantwortungsbereich des Vertragshändlers zuzuweisende atypische Verbrennung verbunden mit einer hieraus resultierenden Überhitzung vor – verursacht entweder durch mangelhafte Injektoren oder durch eine Leistungssteigerung in Form eines Chip-Tunings. Nach Vorlage des zweiten Gutachtens beantragte der Käufer die Ladung des vom OLG bestellten Sachverständigen, um im Rahmen einer mündlichen Verhandlung die technischen Belange ausreichend diskutieren zu können. Diesem Antrag gab das OLG nicht statt. Vielmehr urteilte es allein anhand der technischen Aussagen des zweiten Gutachtens und ohne jegliche Bezugnahme auf das Erstgutachten. Das OLG wies die Klage zu Gunsten des Vertragshändlers ab. Hiergegen erhob der Käufer Revision zum BGH.Entscheidung des BGH: Anspruch auf „rechtliches Gehör“Der BGH hob das zweitinstanzliche Urteil auf und verwies den Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung an das OLG zurück. Nach Darlegung des BGH verletzte das OLG den Anspruch des Käufers auf rechtliches Gehör; das OLG hätte zur Klärung der zwischen beiden Gutachten bestehenden Widersprüche dem Antrag des Käufers auf Sachverständigenladung und mündliche Anhörung nachkommen müssen. Nach der grundsätzlichen und durchgängigen Rechtsprechung des BGH ist die von einer Partei beantragte Ladung eines Sachverständigen generell auch dann erforderlich, wenn das Gericht ein bestimmtes Gutachten für überzeugend hält und keinen weiteren Erläuterungsbedarf sieht. Zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs hat jede Partei einen Anspruch darauf, dass sie einem Sachverständigen die Fragen zur mündlichen Beantwortung stellen kann, die sie zur Aufklärung der Sache für erforderlich hält. Hierbei kann das Gericht von einer Partei, die einen Antrag auf Ladung eines Sachverständigen stellt, nicht einmal verlangen, dass die an den Gutachter zu stellenden Fragen im Voraus konkret formuliert sind. Auch ist es nicht erforderlich, dass ein Erläuterungsbedarf von einer Partei konkret dargetan wird. Es reicht die allgemeine Angabe, in welcher Richtung eine weitere Aufklärung von einer Prozesspartei gewünscht wird. Immer dann, wenn ein Gericht entscheidungserhebliche Ausführungen der Prozessbeteiligten nicht zur Kenntnis nimmt oder in Erwägung zieht, liegt ein Verstoß gegen rechtliches Gehör vor. Insofern hat sich ein entscheidendes Gericht sogar mit einem Gutachten auseinanderzusetzen, welches eine Partei vorprozessual von einem anderen Sachverständigen anfertigen ließ. Auch dort enthaltene Ausführungen könne nicht einfach übergangen werden.Rechtsanwalt Rainer Boppkanzlei@raehaug-partner.deKurzfassung1. Sofern in einem Rechtsstreit sich widersprechende Gutachten vorliegen, muss das erkennende Gericht dem Antrag einer Partei auf Sachverständigenladung nachkommen, um eine mündliche und persönliche Klärung der Widersprüche zu ermöglichen. Anderenfalls verletzt das Gericht den Anspruch der Partei auf rechtliches Gehör.2. Dem Antrag einer Partei auf Ladung und mündliche Anhörung eines Sachverständigen hat ein Gericht auch dann nachzukommen, wenn es ein bestimmtes Gutachten für überzeugend hält und selbst keinen Erläuterungsbedarf sieht.3. Für eine Sachverständigenladung kann das Gericht von der antragstellenden Partei nicht verlangen, dass die beabsichtigten Fragen an den Gutachter im Voraus konkret formuliert werden. Es reicht die vollkommen allgemeine Angabe, in welcher Richtung eine Aufklärung gewünscht wird. Kommentar< Die Gewährung rechtlichen Gehörs stellt das Grundgerüst eines jeden Rechtsstreits dar. In einem Gutachterprozess muss daher jeder Partei breiter Raum gegeben werden, sich die Ausführungen des Sachverständigen erläutern zu lassen und hierzu Stellung zu nehmen. Jede Partei, der ein Gutachten einen Prozessverlust zuweist, ist hierbei versucht, durch die Beantragung von Ergänzungsgutachten und mündlichen Sachverständigenanhörungen das Blatt zu wenden. Doch sollte hierbei Augenmaß bewahrt werden: Jedes weitere Gutachten und jede Anhörung verteuert den Rechtsstreit nicht unerheblich. Wer daher weitere Kosten produziert, sollte sich ausreichend sicher sein, eine ungünstige Sachverständigenmeinung auch tatsächlich umkehren zu können. Anderenfalls könnte sich die Durchsetzung eines weiteren Gutachtens oder der persönlichen Anhörung des Sachverständigen letztlich als Pyrrhussieg darstellen. >

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