Ausgabe 10/2010: Doppellenker

DoppellenkerFahrwerk E Die mitlenkende Hinterachse erlebt eine Renaissance. Neben dem Renault Laguna GT lassen sich auch der 7er und der neue 5er von BMW damit ausstatten. Von Thomas SeidenstückerZugegeben – es ist schon ein etwas merkwürdiger, weil ungewohnter Anblick, wenn die Hinterräder des Autos plötzlich mitlenken. Gut zu sehen bei genauem Blick und langsamer Fahrt. Übertriebener Aufwand? Praktisch und sinnvoll ist die Allradlenkung allemal – insbesondere, weil das Handling des Fahrzeugs viel agiler wird, man besser einparken kann und der Wendekreis kleiner ist. Wer‘s nicht glaubt: Eine Fahrt auf dem Gabelstapler mit lenkender Hinterachse macht das sehr eindrucksvoll deutlich. AltbekanntDie Technik der lenkenden Hinterachse im Auto ist keine brandneue Erfindung, da schon seit den dreißiger Jahren (des letzten Jahrhunderts) bekannt. Allerdings hat die Allradlenkung bis dato nie den Durchbruch geschafft. Honda experimentierte in den achtziger Jahren im Prelude damit herum, bei BMW war es im 8er erhältlich. Dann hörte man mehrere Jahre nichts davon – bis Renault auf der IAA 2007 eine Variante für den damals noch nicht serienreifen Laguna GT zeigte. Die lenkende Hinterachse lag auf Eis, denn andere Optimierungen waren offenbar einfacher: Raumlenker und Mehrlenkerachsen oder die Verwendung elastokinematischer Elemente in der Radaufhängung sind Beispiele dafür. Aktuell haben Renault und BMW die lenkende Hinterachse wiederbelebt und so lassen sich Laguna GT sowie der BMW 7er und der brandneue 5er damit ausstatten. Die Gründe sind in beiden Fällen gleich: Sowohl Dynamik als auch Komfort und Fahrsicherheit des Autos sollen sich verbessern. Im Laguna GT war das bereits erlebbar. Messerscharf zieht das Auto mit der dynamischen Allradlenkung „4Control“ nahezu ohne Untersteuern um die Kurve und folgt der geringsten Lenkbewegung des Fahrers. Beeindruckend, wie die Franzosen aus der früher eher komfortabel-weichen Laguna-Sänfte durch ein härter abgestimmtes Fahrwerk und mit der Allradlenkung eine Sportskanone geformt haben, die echten Fahrspaß produziert.Der Lenkwinkel der Hinterachse im Laguna GT liegt bei ca. 3,5 Grad und wird mit einem Motor erzeugt, der auf zwei Spurstangen wirkt. Bis rund 60 km/h schlagen die Hinterräder gegenläufig zur Vorderachse ein, anschließend lenken sie (max. zwei Grad) in die gleiche Richtung wie die Vorderräder des Autos. Dank Hinterradlenkung ließ sich die vordere Lenkung direkter auslegen. So reagiert das Auto bei Ausweichmanövern spontaner. Zudem kann das ESP im Vergleich zu anderen Lagunas später einsetzen. BegriffsdschungelBetrachtet man das Fahrwerk des neuen BMW 5er, muss man zunächst mit vielen Begriffen klarkommen: Fahrdynamik-Control, Adaptive Drive, dynamische Dämpfer Control oder Wankstabilisierung Dynamic Drive, bis man zur Integral-Aktivlenkung vorstößt. Das optionale Adaptive Drive beinhaltet bei BMW die Dynamische Dämpfer Control und die aktive Wankstabilisierung Dynamic Drive. Ein System, das aus dem 7er bekannt ist und folgende Features umfasst: Variable Anpassung der Dämpfer an die Fahrbahnoberfläche und den Fahrstil durch kontinuierliche und unabhängige Verstellung der Zug- und Druckstufe des Stoßdämpfers.Laut BMW lassen sich so eine straffe Fahrwerkauslegung und komfortable Reaktion auf Fahrbahnunebenheiten kombinieren. Die Kennlinie der Dämpfer kann der Fahrer übrigens vorwählen: Komfort, Sport und Normal. Die Wankstabilisierung (Dynamic Drive) ihrerseits dient dazu, die Seitenneigung des Fahrzeugs in Kurven und bei schnellen Richtungswechseln zu verringern. Dafür sitzen Schwenkmotoren am Stabilisator der Vorder- und Hinterachse, mit deren Hilfe man der Karosseriebewegung entgegenwirkt. On top wird die Momentverteilung zwischen Vorder- und Hinterachse variiert und das Eigenlenk- und Lastwechselverhalten beeinflusst. Die Integral-Aktivlenkung komplettiert das aufwändige Alu-Fahrwerk des BMW und ist zusammen mit der (bekannten) Aktivlenkung für die Vorderachse kombinierbar. In diesem Fall begibt sich der Fahrer noch mehr in elektronische Obhut, da die Lenkkräfte und der Lenkwinkel in Abhängigkeit der Fahrgeschwindigkeit geregelt werden. An der Vorderachse passiert dies im Zusammenspiel mit einem Planetengetriebe, das die Lenkübersetzung variiert. An der Hinterachse wird der Lenkwinkel (2,5 Grad) mit einem Motor und Spindeltrieb erzeugt. In die Berechnung der Lenkung fließen verschiedene Parameter ein: Raddrehzahl, Lenkradbewegung, die Gierrate und die Querbeschleunigung. Effekt laut BMW: „Die Aktivlenkung der Vorderräder ermöglicht es dem Fahrer, bei niedriger Geschwindigkeit mit geringen Lenkradbewegungen und ohne ein Umgreifen zu rangieren. Durch das Mitlenken der Hinterräder wird die Wendigkeit des Fahrzeugs im Stadtverkehr und auf kurvenreichen Passstraßen noch weiter gesteigert.“Service fast wie immerVergleichbar Renault schlägt BMW die Hinterräder bis 60 km/h entgegen den Vorderrädern ein. Bei höherer Geschwindigkeit folgen die Hinterräder dem Einschlag der Vorderräder. Resultat ist eine Auflösung des Zusammenhangs zwischen Querbeschleunigung und Rollneigung des Autos um die Hochachse. So werden schnell durchfahrene Kurven für die Insassen komfortabler und sicherer wahrgenommen. Auf der anderen Seite verliert der Fahrer allerdings auch ein Stück weit das Gefühl für den Grenzbereich.Was sich sehr komplex anhört, stellt kaum höhere Anforderungen an den Service in der Werkstatt. So gelten bei BMW für die Fahrzeuge mit Schräglauflenkung (Integral Aktivlenkung) die gleichen Fahrwerkeinstellwerte wie für Fahrzeuge ohne diese Ausstattung. Allerdings ist vor Einstellung des Fahrzeugs die Schräglauflenkung über eine Servicefunktion im Tester in eine definierte Lage (Mittelstellung) zu bringen. Weitere Vorarbeiten oder Spezialwerkzeuge sind nicht nötig, wobei die Betriebe auf der Rechnung 4 AW zusätzlich für die Justage berechnen dürfen. zLesen SIe hier...... wie die exotische Allradlenkung in die Serie zurückfindet und vielleicht bald Nachahmer auf den Plan rufen wird. Nein, der ältere Fünfer hatte noch keine Allradlenkung, doch im Nachfolger sieht es so ähnlich aus. Im Bild die nicht automatisch reversible Variante nach einem Unfall. Erstmals zu sehen auf der IAA 2007: Die Allradlenkung von Renault im Rahmen der Studie vom Laguna Coupé. Optisch sehen die 3,5 Grad Radeinschlag nach nicht viel aus, machen sich aber beim Fahren und im Wendekreis deutlich bemerkbar (Renault: 10,3 statt 11,05 m Wendekreis).

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