Von Wolfram Nickel/SP-X
Er verfügte schon vor 80 Jahren über Qualitäten, mit denen noch heute die aktuelle Mercedes-Benz E-Klasse Maßstäbe in der Businessclass setzt: Fahrkomfort, Leichtbau und Downsizing, damit sorgte der Mercedes-Benz 170 V im Jahr 1936 für Furore - und deklassierte so nebenbei selbst technische Avantgardisten wie den Citroen Traction Avant oder den Lancia Aprilia. Vor allem aber gelang es dem in gleich 16 verschiedenen Karosserievarianten verfügbaren Mercedes des Baumusters W 136, die Marke im Zeichen des Sterns in der Spitzengruppe der deutschen Verkaufscharts zu platzieren.
Möglich machten dies allerdings betont biedere Karosseriekleider und bürgerliche Preise, denn dezent verpackter technischer Fortschritt verkaufte sich schon damals besser als mutige modische Formen. Ersetzte im Mercedes 170 V zunächst ein neu entwickelter, 28 kW / 38 PS freisetzender Vierzylinder den im Vorgänger verwendeten, phlegmatischeren Sechszylinder, gab es 13 Jahre später wahlweise einen revolutionären 170 D. Trotz laut nagelnder Verbrennung begeisterten sich für diesen sensationell sparsamen und erstaunlich schnellen 1,8-Liter-Selbstzünder-Pionier erstmals nicht nur Taxifahrer, sondern auch Privatkunden. Ausgerechnet in einem Vorkriegsoldie gelang dem Diesel-Pkw so der Durchbruch in die Großserie.
Mit heutigen Augen betrachtet, wirkt der Mercedes 170 V nicht nur konservativ, sondern urzeitlich wie die meisten Oldtimer aus der Vorkriegsära. Vor 80 Jahren aber markierte dieser Benz den Beginn der automobilen Neuzeit, zumindest was Effizienz und Leistungsvermögen betrifft. Statt eines konventionellen Kastenrahmens vertraute der damals jüngste Mercedes für den Traum vom Wohlstand auf einen verwindungssteiferen und 80 Kilogramm leichteren X-Ovalrohr-Rahmen und auf vergleichsweise kompakte Karosserieabmessungen von nur 4,27 Meter Länge. Damit war der - überdies überraschend kostengünstige - kleine Sternenkreuzer bis zu 60 Zentimeter kürzer als die vergleichbare Konkurrenz etwa von Hanomag, Opel, und Citroen, die er im Prestige trotzdem überragte. Vertraute doch die deutsche Prominenz der 1930er Jahre vor allem auf großvolumige Modelle von Audi, Horch sowie Maybach – und eben Mercedes, die es aber als Einstiegsmodelle zu relativ bezahlbaren Konditionen gab.
Nibel trieb Downsizing voran
Kompakte Karosserien zu günstigen Preisen, dafür zeichnete der legendäre Mercedes-Chefkonstrukteur Hans Nibel verantwortlich, der 1934 auch die Entwicklung des 170 V vorantrieb. Den Begriff des heutigen Downsizing gab es damals zwar noch nicht, aber Nibel konstruierte in diesem Sinn. So sollte der kommende Benz der Businessclass von einem 1,7-Liter-Vierzylinder angetrieben werden, der nicht nur sparsamer, sondern auch leistungsfähiger war als der vorherige Sechszylinder im abzulösenden Typ 170 (W 15). Eine Aufgabenstellung, die nach Nibels plötzlichem Tod ab 1935 vom neuen Technischen Direktor Max Sailer gelöst wurde.
Tatsächlich debütierte auf dem Berliner Autosalon 1936 deshalb nicht nur der Mercedes 260 D als Diesel-Pkw-Pionier, sondern auch das Duo aus 170 V und 170 H, beide mit dem neuen Ottomotor unter der Haube. Die Mercedes-Kundschaft dachte konservativ, weshalb der modische 170 H (H für Heckmotor) nach wenigen Jahren ins Nirvana entschwand. Dagegen verzichtete der 170 V (V für vorn angeordneter Motor) nicht nur auf das Mitte der 1930er Jahre angesagte Aerodesign, die Kraftwerkskonstruktion beließ es zudem bei althergebrachten stehenden Ventilen. Andererseits bewirkte die aufwändige, sogenannte schwebende Motorlagerung eine Laufkultur, die fast einem Sechszylinder entsprach. Hinzu kamen hydraulische Bremsen und eine vordere Einzelradaufhängung mit hinterer Zweigelenk-Pendelachse. Ein Fahrzeugkonzept, das sogar die französische Prestigemarke Panhard überzeugte, die deshalb um eine Lizenzfertigung ersuchte. Und selbst um 1950 äußerte sich die Fachpresse noch begeistert über die "bestens bewährte Vorkriegsschöpfung".
Den Zweiten Weltkrieg hatte die bis dahin meistgebaute Mercedes-Reihe aller Zeiten jedoch nicht unbeschadet überstanden. Die Daimler-Benz-Werke lagen ebenso in Trümmern wie der Rest des Landes. Vorbei die Zeit unüberschaubar vielfältiger Karosserievarianten beim 170 V, die neben geschlossenen Limousinen, Cabriolets, Roadstern und Nutzfahrzeugen sogar geländetaugliche Allradler- und Jagdwagen mit Vierradlenkung umfasste. Was blieb, waren die Fahrgestelle, deren Fertigung schon 1946 mit Pritschen-, Kasten- und Krankenwagenaufbauten für Behörden anlief. Ein Jahr später folgte die Limousine und später offene Tourenwagen, für die Privatleute noch Anfang der 1950er Jahre Lieferzeiten von 18 Monaten auf sich nahmen. Bester Beweis dafür, wie begehrt der optisch zum Oldie gereifte Benz blieb - auch in der neuen Welt des Pontondesigns von Borgward Hansa oder Alfa Romeo 1900. Sanfte Kosmetik genügte, um den Wagen mit steilem Stern auf der Haube à jour zu halten.
Sparsamer Diesel für alle
Schien die Karosserie des 170 V manchen Designkritikern nichtsdestotrotz muffig-restaurativ, lieferte die Baureihe W 136 unter dem Blech eine zukunftsweisende Neuheit: Den sparsamen Diesel für alle. Der intern Oelmotor genannte, 28 kW / 38 PS abgebende Selbstzünder wurde nach der Währungsreform im Jahr 1949 eingeführt und entwickelte sich auf Anhieb zum Bestseller, da vorläufig nur Dieselkraftstoff ohne Engpässe lieferbar war. Aber auch danach hielt der Diesel-Hype an, zumal Mercedes schon 1950 die Leistung auf 29 kW / 40 PS steigerte. Stolz wie sonst allenfalls V12-Insignien prangte ein chromglänzender Diesel-Schriftzug am Kühlergrill des 170 D, der übrigens auf dem Kurbelgehäuse des 170-Benziners aufbaute und identische Zylinderabmessungen besaß.
Zeitgenössische Testfahrer bescheinigten dem unter Last schwarze Rußwolken ausstoßenden 170 D fast sportliche Fahrleistungen, die kaum hinter dem Benziner zurückblieben. In Zahlen bedeutete das eine Vmax von 105 bis 108 km/h und eine runde Gedenk-Minute für den "Sprint" von Null auf Tempo 100. Der eigentliche Vorteil für den im Vergleich zum 170 V mehr als 1.000 Mark teureren Diesel lag natürlich in seinem knausrigen Kraftstoffkonsum. Die Presse ermittelte sechs bis sieben Liter pro 100 Kilometer und damit 40 Prozent weniger als der Benziner benötigte. Abgesehen von der rauen Laufkultur und dem langen Vorglühvorgang – im Winter bisweilen bis zu einer Minute - konnte dieser erste schnelllaufende Großserien-Diesel schon mit dem Talent aufwarten, das Selbstzünder so erst in den 1980er Jahren wieder entdeckten: Flotte Fortbewegung, die nicht hinter der eines Benziner zurückblieb.
Die Stunde des Abschieds kam für die Mercedes 170 V und 170 D im Jahr 1953, denn in jenem Jahr kam das neue Pontonmodell 180 (W 120) ohne Trittbretter und ohne separate Kotflügel in den Handel. Groß war anfänglich das Gezeter der Traditionalisten, denen der moderne Mercedes 180 zu wenig repräsentativ erschien. Ein Abschiedsschmerz, den die Baureihe W 136 durch ihre Langzeitqualitäten milderte, noch in den 1960er Jahren waren die 170er im Straßenbild gegenwärtig.