Von Benjamin Bessinger/SP-X
Die Damen bei Tiffany's sind gelangweilt und nebenan bei Armani polieren sie jetzt schon zum dritten Mal in einer Stunde den blitzblanken Tresen – seit dem nebenan die neuen Nachbarn eingezogen sind, ist in den beiden Shops in der vornehmen Oriental Plaza Mall im Herzen Pekings nicht mehr ganz so viel los. Zwei Läden weiter dagegen können sie sich seit etwa einem halben Jahr vor Andrang kaum retten und haben an einem normalen Wochenende schnell 1.000, an einem guten auch mal 2.000 Gäste. Dabei gibt es hier streng genommen noch gar nichts zu kaufen. Denn der neue Nachbar ist Nio, eine der aussichtsreicheren Neugründungen auf dem chinesischen Automarkt, die im Fahrwasser von Tesla & Co die elektrische Revolution auf der Straße vorantreiben möchte. Und das einzige, was die Chinesen aktuell anzubieten haben, sind bunte Visionen und ein paar Vorserienmodelle. Seit gut einem Jahr kann die Marke zwar zumindest ein Serienauto vorweisen, doch gibt bislang weder Probefahrten, geschweige denn erste Auslieferungen.
Dass Männer wie Verkaufsleiter Jacky trotzdem viel zu tun haben in den drei Schichten von 10 Uhr morgens bis 22 Uhr abends und dass Nio selbst Marken wie Armani oder Tiffany's das Leben schwer macht in der Oriental Plaza Mall liegt am eigenwilligen Vertriebskonzept der Chinesen: "Wir wollen mit dem klassischen Autohandel und seinen Autohäusern nichts mehr zu tun haben", sagt Jacky und vergleicht das so genannte "Nio-House" eher mit einer noblen Boutique als einem konventionellen Showroom.
Damals, als das repräsentative Eckgebäude in Sichtweite der Verbotenen Stadt noch Audi gehörte, standen die Autos hier dicht an dicht. Heute dagegen sieht man auf den rund 1.500 Quadratmetern im Erdgeschoss gerade mal drei Fahrzeuge: den elektrischen Supersportwagen EP9, der den Rundenrekord für E-Fahrzeuge auf dem Nürburgring hält, einen Rennwagen aus der Formel E und den ES8, der als elektrisches SUV mit sechs Sitzen künftig gegen Modelle wie den VW Terramont oder den Mercedes GLS antreten will.
Nio-House in Peking
BildergalerieMit Maßanzug und Hipster-Bart
"Daran wird sich auch nichts ändern, wenn wir mal mehr Baureihen haben", sagt Jacky. Denn uns geht es hier nicht um einzelne Modelle, sondern um den Aufbau der Marke. "Wir wollen den Kunden eine neue Lebenswelt präsentieren und uns so von etablierten Firmen abheben", doziert der junge Mann mit Maßanzug und Hipster-Bart und lässt den Blick durch die Leere schweifen, die weniger nüchtern als nobel wirkt. Außerdem hat Lucky so Platz für ein paar buchstäbliche Spielereien, die sich andere Hersteller nur schwerlich leisten können. Zum Beispiel den riesigen Fahrsimulator mit VR-Technik und Großbildleinwand, auf dem jeder Besucher die Rekordrunde des EP9 auf der Nordschleife nachfahren kann. Wobei man schon verdammt schnell auf der Datenautobahn unterwegs sein muss, wenn man den Eifelkurs tatsächlich in sechs Minuten und 45 Sekunden schaffen will.
Während das Nio-House bis dahin vielleicht noch mit den Tesla-Shops oder den Me-Stores von Mercedes vergleichbar ist und man auch bei diesen Marken an den Stadtrand muss, wenn man sein Auto abholen oder zur Reparatur bringen möchte, betritt man im ersten Stock buchstäblich eine eigene Welt: "For members only", sagt Jackys Kollegin Tina und zückt ihr Smartphone mit dem QR-Code, der sie als Mitglied der Nio-Familie ausweist. Nur wenn sie dieses Logo an den Scanner hält, öffnet sich die gläserne Schiebetür zu einem Club, der ein bisschen wie eine Mischung aus Starbucks, dem Kinderland von Ikea, einer Hotellobby und der Stadtbibliothek aussieht – nur in cool. Denn auch hier gibt es Kaffee-Spezialitäten, die in einer offenen Küche serviert werden, es gibt bequeme Sitzgruppen, ein Kinderland und tatsächlich eine Leseecke mit einem prall gefüllten Bücherregal. Und wer an einem der Schmöker Gefallen findet, der bekommt den Wälzer einfach nach Hause geschickt, erzählt Hausherr Jacky.
Lässige Boutique-Atmosphäre
"Die Leute kommen zu uns, wenn sie zwischen dem Shoppen mal eine Pause machen, sich entspannen und Ruhe genießen wollen, die man in Peking sonst kaum irgendwo findet", hat er beobachtet. Während sie unten in der Boutique nur kurz durchschlendern, sitzen sie oben deshalb oft für mehrere Stunden. Damit es nicht langweilig wird, organisiert Jacky regelmäßig Veranstaltungen: Diskussionen und Tech-Talks für die Erwachsenen und Spielenachmittage für die Kleinen.
Zwar ist das Vertriebskonzept der Chinesen erfrischend anders und Hausherr Jacky zu Recht stolz auf die lässige Boutique-Atmosphäre im Nio House, von dem es in Peking mittlerweile zwei und in ganz China schon fast ein Dutzend gibt. Doch ein Detail hätten sich die Neueinsteiger aus der alten Welt für ihr erstes und größtes Designer-Domizil ruhig abschauen können. Denn es ist schon ein wenig verwunderlich, dass ausgerechnet ein Autohändler für seine Kunden keine Parkplätze hat, geschweige denn, dass eine rein elektrische Marke nicht mal über Ladesäulen verfügt. "Das haben wir auch gemerkt", räumt Jacky ein und gelobt baldige Besserung. Ein wenig Zeit hat er ja noch. Schließlich startet die Auslieferung der ersten 10.000 Exemplare des ES8 ab Sommer.
Manfred Wiehe