Europäische Händlernetze: Engere Zusammenarbeit erforderlich

Es gilt keine Zeit zu verlieren. Das ist der Rat des International Car Distribution Programme (ICDP) an die Händlernetzentwickler. Anlässlich der Präsentation ihres Handbuchs zum Europäischen Autovertrieb (European Car Distribution Handbook ECDH) im Dezember 2021 stellte das europäische Forschernetzwerk zum Autovertrieb für 2021 zwar erneut einen Rückgang der Händlerzahlen in Europa fest. Dieser ist aber weit geringer als erwartet: Im Vergleich zum Vorjahr sank die Zahl aller Verkaufsstandorte nur um rund drei Prozent. Das ist schneller als in 2020, als der Rückgang 1,8 Prozent betrug. Angesichts der bereits 2014 prognostizierten Verringerung um 20 Prozent aber immer noch viel weniger als erwartet: Selbst für die Kernmarken (29 Marken mit stabiler Präsenz in 36 Märkten) betrug der Rückgang im Vergleich zu 2010 nur zwölf Prozent - von damals rund 54.000 auf heute 48.000. Krisenauswirkungen abgefedert Das ist besonders bemerkenswert angesichts des dramatischen Rückgangs der durchschnittlichen Verkaufszahlen pro Standort von 324 auf 258 im Jahr 2021. ICDP führt die geringen Auswirkungen der Pandemie und des Halbleitermangels auf die Unterstützung der nationalen Regierungen sowohl für Industrie als auch für Handel sowie auf die durch fehlende Überproduktion verbesserten Renditen zurück. Auswirkung auf Kunden gering Die Forscher sind aber überzeugt, dass die Reduktion der Händlerstandorte nunmehr sehr viel schneller gehen wird. Interessant ist dabei eine Berechnung, die die Forscher im letzten Jahr angestellt haben: Wenn es ein Drittel weniger Händler gäbe, würde sich die Fahrzeit der Kunden zum nächsten Verkaufsstandort nur um wenige Minuten verlängern - durchschnittlich gesehen natürlich. "So groß ist die Überbesetzung der Händlernetze derzeit", folgert ICDP-Chef Steve Young. Und: Die Pandemie hat dafür gesorgt, dass mehr Hersteller wesentlich schneller digitale Verkaufskanäle für Neuwagen eingeführt haben. Stellantis zeigt Wirkung Schaut man sich die von den Forschern zusammengestellte Grafik der Zu- und Abnahmen der Standorte bei den einzelnen Marken an, wird deutlich, dass es zwar durchaus Marken mit Zunahmen gibt wie zum Beispiel MG, die neu auf den Markt kamen. Mehr Marken haben aber Standorte abgebaut, allen voran die des Stellantis-Konzerns. Zwei Drittel bauen im Service ab Besonders bemerkenswert ist die Entwicklung im Service. In 2021 hat die Zahl der Service-Betriebe im Vergleich zum Vorjahr in Europa um 1,6 Prozent abgenommen. In absoluten Zahlen sind es jetzt 93.600 Markenwerkstätten - zehn Prozent weniger als 2015 und 18 Prozent weniger als 2010. "Zwei Drittel der Marken bauen Standorte ab, darunter fast alle großen Hersteller mit hohem Absatzvolumen", sagt ICDP Deutschland Repräsentant Pascal Wetter. Wegen des Anspruchs auf Servicevertrag laut Gruppenfreistellungsverordnung (GVO) haben die Hersteller zwar nicht die absolute Kontrolle über ihr Servicenetzwerk. Der höhere Investitionsbedarf pro Standort wegen der anspruchsvolleren Standards vor allem aufgrund der Elektromobilität lässt aber doch einige Betriebe aussteigen. Abstand und Markenentscheidung Den Grund dafür, dass die Haupthändlernetze nicht schneller reduziert werden, sieht Young vor allem in der Angst der Hersteller, Verkäufe zu verlieren. Sie fürchten, dass ein Kunde eine andere Marke wählt, weil deren Vertreter ein wenig näher liegt. Die von ICDP durchgeführte Kundenbefragung deutet allerdings nicht darauf hin, dass viele Kunden deswegen die Marke wechseln würden. Vor allem, weil die Entfernung eben nur "ein wenig" weiter ist. Laut den Recherchen der Forscher hat sich die Hälfte der Kunden ohnehin bereits auf eine Marke festgelegt, bevor sie sich auf den Weg macht. Deshalb würden die Kunden laut der Befragung auch an einem Autohaus einer anderen Marke vorbeifahren, um zu ihrer Marke zu gelangen. Zu hohe Kosten Aber: Die Kunden fordern immer mehr Präsenz auf allen Kanälen. Zudem bestehe seit Langem die Notwendigkeit, die Netzkosten und -investitionen zu senken. "Die bestehenden Netzstrukturen binden immer noch mehr Kosten und Investitionen als nötig, um die Kundenbedürfnisse zu befriedigen", so Young. Weil aber nicht klar ist, wie der Königsweg im Vertrieb aussehen wird, testen die Hersteller verschiedene Möglichkeiten - und passen je nach Erfahrung die Richtung an. Hinzu kommt, dass es vielleicht gar keinen Königsweg gibt, der für alle Marken gleichermaßen gangbar ist. Die richtigen Partner Die Chancen, die die Umstellung auf mehr Kanäle bietet, werden laut ICDP aber von allen erkannt. Um den Übergang zum Omnichannel (dt. Mehrkanal)-Modell so effektiv wie möglich zu gestalten, seien unabhängig vom gewählten Geschäftsmodell engere Partnerschaften, aber auch die Realisierung von Größenvorteilen in Systemen, Prozessen und Mitarbeitern notwendig. Die Umstrukturierungen und die Bindung der richtigen Partner für dieses neue System werden den Übergang erleichtern und teilweise finanzieren, heißt es in dem Handbuch. Zunehmende Konzentration Was mit den "richtigen Partnern" gemeint ist, konkretisiert ICDP nicht direkt. Ein paar Zahlen machen es aber deutlich: 2019 standen die zehn größten Händlergruppen in Deutschland, Frankreich und Großbritannien für 20 Prozent der Fahrzeugverkäufe im jeweiligen Land. In den Niederlanden machten sie sogar 40 Prozent aus. Das Forschernetzwerk hat allein in 2021 rund 170 "Mergers and Acquisitions", also Fusionen, Verkäufe oder Betriebsübergänge, in den großen europäischen Märkten gezählt. Dabei seien sicher einige übersehen worden, räumen sie ein. Für ICDP ist aber klar: In 2021 hat sich die Bewegung beschleunigt. Und 2022 wird das voraussichtlich noch mehr. Die AU-TOHAUS Online Meldungen sprechen hier eine eigene Sprache für Deutschland: Allein in einer Woche wurde zuletzt bekannt, dass die Enders Gruppe im Februar die vier Bilia-Autohäuser in Idstein, Limburg, Nidda und Friedberg übernimmt. Oder das Autohaus Gotthard König holt mit Wirkung zum 1. April 2022 das familiengeführte VW-Autohaus Auto-Adler GmbH in Berlin-Köpenick unter sein Dach. Damit wächst das König-Filialnetz auf 60 Standorte in Deutschland. Und, und, und. Das Institut für Automobilwirtschaft in Nürtingen geht davon aus, dass es bis 2030 nur noch 3.900 Autohaus-Unternehmen hierzulande gibt. Über Grenzen hinweg Und dann gibt es ja noch die Handelsgruppen, die in ihrem lokalen Markt bereits so weit gewachsen sind, dass ihr Marktanteil von den Herstellern kritisch gesehen wird oder sich sogar schon die Kartellbehörden dafür interessieren. Sie engagieren sich jetzt über Grenzen hinweg. Als Beispiel nennt die Forschergruppe die schwedische Handelsgruppe Hedin Automotive, die die niederländische Handelsgruppe Stern übernommen hat. Hedin hat bereits Autohäuser in Norwegen, Schweiz und Belgien. Ihr gehört derzeit auch ein Viertel der britischen Pendragon-Gruppe. Auch die niederländische Gruppe Van Mossel hat zuletzt in Belgien und den Niederlanden zugekauft und Car Avenue besitzt jetzt nicht nur Autohäuser in Frankreich, sondern auch in Belgien, Luxemburg und der Schweiz. In Deutschland bestens bekannt sind Emil Frey und Penske, die ebenso wie AVAG und viele andere schon länger über Grenzen aktiv sind. Wer ist schneller? Klar: Die Neuordnung einschließlich der Planung und der Umstellung auf ein Omnichannel-System ist ein Prozess, der sich über mehrere Jahre erstreckt. Weitere Verzögerungen müssen laut ICDP aber vermieden werden, da sonst das Risiko steigt, dass Kunden zu Wettbewerbern oder zu neuen Marktteilnehmern abwandern, die diese Strukturen und Prozesse bereits anbieten. "Aus unserer Sicht gilt es keine Zeit zu verlieren", sagt Young. Neue Vertriebskanäle Für diese Auffassung spricht, dass es immer mehr andere Anbieter gibt, die in den Markt einsteigen. So gab es bereits Anfang 2021 nach den Recherchen der Forschungsgruppe 125 Neuwagen-Online-Vertriebskanäle mit Transaktionsmöglichkeit und 121 nicht traditionelle Einzelhandelsformate. Im Umkehrschluss heißt das zwar, dass der Vertragshandel immer noch der wichtigste Absatzkanal ist, denn bislang gibt es in Europa auch nur 16 nationale Umsetzungen des Agenturmodells. Aber: Die Zahl steigt und wahrscheinlich schneller, als es manchem lieb ist. Kurzfassung Wenn es ein Drittel weniger Händler gäbe, müssten die Kunden nur wenig weiter fahren, um zum nächsten Autohaus ihrer Marke zu gelangen. So überbesetzt sind die Netze derzeit, sagen die Forscher des europäischen Netzwerks ICDP. Sie raten den Herstellern, die Netze nunmehr schnell anzupassen.

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