TÜV NORD: Das Turbo-Schadengutachten

Begleitet von protestierendem Quietschen und Scharren öffnet Christian Rohling mit einem leichten Ruck die Fahrertür des schwarzen Volvo V40. Dass sich die Tür überhaupt öffnen lässt, ist nicht selbstverständlich. Denn durch einen Crash mit einem deutlich größeren Fahrzeug ist sie über die gesamte Breite massiv eingedrückt. Doch darauf kann Rohling keine Rücksicht nehmen, schließlich soll er als Ingenieur von TÜV Nord Mobilität hier in der Direktannahme des Volvo-Vertragshändlers E.R.B. Auto Zentrum GmbH in Hannover das Unfall-Fahrzeug begutachten. Anders als üblich tut er das jedoch allein, ohne einen spezialisierten Schadengutachter an seiner Seite. Stattdessen balanciert er in einer Hand permanent ein iPhone im Querformat, mit dem er das Auto aus allen Winkeln aufnimmt. Selbst als er sich hinter das Lenkrad des Volvo zwängt, legt er es nicht ab. Das hat einen Grund: Über das Smartphone ist er per Telefon und Video-Livestream mit Schaden-Wertgutachter Nunzio Bruni verbunden, der das Fahrzeug von seinem Arbeitsplatz im TÜV Nord Sachverständigenzentrum im saarländischen Saarwellingen begutachtet. "Ich bin Auge und verlängerter Arm der Gutachter", sagt Rohling. Während er - von Bruni über das Headset dirigiert - um das Fahrzeug herumgeht, mit der Kamera sämtliche Schadendetails anvisiert und mit dem Gutachter leise murmelnd die Schäden bespricht, trägt dieser an seinem Rechner die Schäden bereits in DAT-Skizzen ein und beginnt mit der Schadenkalkulation. Knapp 25 Minuten brauchen die beiden, um den Volvo von oben bis unten zu untersuchen. Weitere 20 Minuten später ist dann die Reparatur-Kostenkalkulation zum Gutachten fertig und trifft per E-Mail im Autohaus ein: 9.549 Euro veranschlagt Bruni im Saarland für Reparatur und Teile des Volvo in Hannover. In 45 Minuten zum Schadengutachten Sofort-Gutachten nennt TÜV Nord Mobilität das Verfahren, das die Prüforganisation nach einer Erprobungsphase im Saarland seit April dieses Jahres erstmals bundesweit in der Öffentlichkeit vorgestellt hat. Derzeit befindet sich das neue Angebot in der Roll-out-Phase. Sowohl TÜV Nord als auch das E.R.B Auto Zentrum versprechen sich davon etliche Vorteile. So entfallen beispielsweise sämtliche Anfahrtswege für die Schadengutachter. "Schneller, präziser, innovativer: Durch die innovative Technik erhöhen wir die Geschwindigkeit der Gutachtenerstellung und reduzieren die Zeitspanne, bis die Reparaturkosten-Kalkulation bei unserem Werkstattpartner vorliegt, auf unter eine Stunde", fasst Armin Heese, der Geschäftsführer der TÜV Nord Sofortgutachten GmbH, zusammen. Das bringt für Autohäuser und Werkstätten etliche Vorteile mit sich. So müssen deren Kunden nicht mehr zwei bis drei Tage warten, bis das Gutachten vorliegt und mit den Reparaturarbeiten begonnen werden kann. "Der Kunde will schnell wissen, wie groß der Schaden ist. Wenn wir dann schnell eine sauber kalkulierte Zahl vorlegen und schnell reparieren können, bleibt er langfristig loyal", sagt E.R.B.-Kundendienstleiter Jens Kruse. Darüber hinaus belege das Auto auch nicht mehr so lange den eigenen Hof, ergänzt Karosseriebauermeister Matthias Reich. Denn je schneller das Gutachten vorliegt, desto eher werde auch entschieden, ob das Auto überhaupt noch repariert werden soll. Falls ja, könnten die Teile dann wesentlich früher bestellt und die Werkstattauslastung besser geplant werden. Durch den geringen Zeitbedarf sei es zudem denkbar, die Kunden zuschauen zu lassen, während die TÜV-Mitarbeiter ihr Auto begutachten. "Das schafft zusätzliche Transparenz und Akzeptanz", meint Heese. Keine zusätzlichen Kosten Die Hürden, um das Sofort-Gutachten im eigenen Betrieb einzuführen, sind dabei denkbar gering: Einzige Voraussetzung ist ein gutes Mobilfunknetz oder ein WLAN-Zugang, den der TÜV Nord Mitarbeiter nutzen darf, um mit dem Smartphone den Video-Livestream zum Gutachter aufzubauen. Zusätzliche Kosten fallen für das neue Verfahren ebenfalls nicht an. "Wer unsere Sofort-Gutachten im eigenen Unternehmen anbieten möchte, muss im Prinzip nur einen Anruf tätigen", sagt Heese. In Zukunft könnten Autohäuser die Technik zudem auch bei der Hereinnahme von Gebrauchtwagen und bei der Rücknahme von Leasing-Fahrzeugen einsetzen. Entsprechende Angebote baue TÜV Nord Mobilität derzeit auf. Um für den flächendeckenden Einsatz vorbereitet zu sein, schult der Prüfdienst laufend weitere Mitarbeiter für die Sofort-Gutachten. Das ist neben Berufserfahrung als Prüfingenieur Voraussetzung, um an dem Verfahren mitzuwirken. Geschult werden unter anderem der genaue Prozessablauf und die rechtlichen Grundlagen. Beispielsweise muss der Gutachter aus dem Sachverständigenzentrum selbst die Fotos für das Gutachten auslösen, da er vor Gericht für dessen Inhalte einsteht. Auch deshalb müssen die Prüfingenieure vor Ort lernen, wie das Smartphone oder Tablet zu führen ist, damit für ihren Kollegen in der Ferne auch die kleinsten Kratzer und Schattierungen sichtbar sind. Andernfalls wäre außerdem das Vier-Augen-Prinzip nicht gewährleistet und die Qualität des Gutachtens würde hinter dem alten Verfahren mit dem Sachverständigen vor Ort zurückbleiben. Das wiederum würde die Gutachten angreifbar machen. Christian Rohling hat bisher allerdings noch jeden Kratzer gefunden: "Wenn ich filme, ist es, als ob der Gutachter neben mir steht", sagt er selbstbewusst. Kurzfassung Dank der beschleunigten Gutachten können die Betriebe ihren Kunden schnell Klarheit über die Schadenhöhe verschaffen. Das steigert die Kundenzufriedenheit, erleichtert die Werkstattplanung und verringert die Zeit, in der das Fahrzeug auf dem Hof des Händlers herumsteht. Die Software hinter den Sofort-Gutachten Die Software für die Sofort-Gutachten stammt vom saarländischen Unternehmen Live-Expert GmbH. An diesem übernahm TÜV Nord Mobilität Anfang dieses Jahres die Mehrheit und führte es in die TÜV Nord live-expert GmbH über. Diese hält seitdem das Patent für das Programm und entwickelt es laufend weiter. Die Gutachten selbst erstellt ein zweites Unternehmen, die TÜV Nord SofortGutachten GmbH. Deren Sachverständige können in Zukunft möglicherweise auch auf die Hilfe künstlicher Intelligenz zurückgreifen, wenn sie ihre Schadengutachten erstellen. An entsprechend weiterentwickelten Systemen wird derzeit bereits gearbeitet.

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