Nach der Entscheidung der Briten gegen einen Verbleib in der Europäischen Union (EU) sieht der Autoexperte Prof. Stefan Bratzel die dortige Branche vor schweren Zeiten. "Der Brexit wird zu einem schleichenden Exit der Automobilindustrie von der Insel führen", schreibt der Leiter des Center of Automotive Management (CAM) in einer am Freitag veröffentlichten Kurzanalyse. Die negativen Auswirkungen auf die Branche könnten zwar noch nicht abschließend bewertet werden, wirkliche Gewinner gebe es aber keine.
Im vergangenen Jahr wurden im Vereinigten Königreich 1,66 Millionen Neuwagen gebaut. Nach Einschätzung von Bratzel sind vor allem diejenigen Autohersteller und -zulieferer vom Brexit betroffen, die dort Produktionsanlagen mit hoher Kapazität besitzen. Dies gilt vor allem für Nissan und der zum indischen Tata Konzern gehörende Hersteller Jaguar Land Rover (JLR). Beide produzierten im vergangenen Jahr jeweils rund 500.000 Fahrzeuge.
In etwas geringerem Umfang trifft das Votum BMW. Der weiß-blaue Autobauer fertigte 2015 in UK rund 200.000 Fahrzeuge inklusive Mini und Rolls-Royce. Toyota kam auf rund 190.000 Pkw. Etwa 140.000 bzw. 120.000 Fahrzeuge steuerten Opel/Vauxhall sowie Honda bei. Die weiteren Stückzahlen entfielen hauptsächlich auf kleine, lokale Hersteller. Ins Kalkül müssen aber noch Motorenwerke und Entwicklungsstandorte einiger Firmen (u.a. Nissan, JLR und BMW) gezogen werden.
Problematisch wird das britische Referendum aber insbesondere für den Inlandsmarkt. Bratzel: "Den stärksten Negativeffekt wird es für die britische Automobilindustrie und deren Arbeitsplätze selbst geben, da der Standort außerhalb der EU unattraktiver wird. Insgesamt ist mit einem Anstieg der direkten und indirekten Kosten zu rechnen, wenn das Vereinigte Königreich im Verhältnis zur EU als Drittland gilt."
Der Branchenkenner verwies in diesem Zusammenhang auch auf die zunehmenden Unsicherheiten: "Die Aushandlung von Kooperationsverträgen wird Jahre dauern – und das Ergebnis ist aus heutigem Stand völlig offen. Um einen Dominoeffekt weiterer Austritte zu vermeiden, könnte die EU restriktive Bedingungen für Austrittsländer vorsehen." Vor diesem Hintergrund werde aktuell jeder Hersteller oder Zulieferer seine anstehenden Investitionsentscheidungen und möglichen höheren Komplexitätskosten rund um den Brexit gründlich überdenken. Mittel- und langfristig rechnet Bratzel deshalb mit Standortverlagerungen von der Insel in die EU. (rp)
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Joseph Le Bel