Am Vormittag des 11. Juni 1948 ist der Gasthof "Zur Traube" in Brühl bei Köln voll besetzt. Generaldirektoren und Direktoren von 41 Versicherungsunternehmen sind angereist, um eine wichtige Entscheidung für die Zukunft der Branche zu treffen. Auf der Tagesordnung steht die Abstimmung über die Satzung eines neues Verbandes, des Gesamtverbandes der Versicherungswirtschaft e.V.. Dessen Gründung wird von den Anwesenden "lebhaft begrüßt", wie es in der Chronik heißt. Nach eingehender Beratung billigen die Unternehmensvertreter die Satzung und unterzeichnen das Gründungsprotokoll. Am Nachmittag, zur ersten Mitgliederversammlung, schließen sich weitere Unternehmen an, der neue Verband zählt danach bereits 189 Mitglieder.
Der Tag vor 75 Jahren markiert die Geburtsstunde des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV), der erst seit 1976 den Zusatz "deutsch" im Namen trägt. Der Branche gelang damit noch wenige Tage vor der Währungsreform am 20. Juni 1948 der organisatorische Zusammenschluss und Monate vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, die erst ein knappes Jahr später erfolgen sollte. Zu dieser Zeit verbuchte die Branche Prämieneinnahmen von rund 2,2 Mrd. DM und beschäftigte etwa 54.200 Mitarbeiter.
Nach dem Krieg ist Einigkeit gefragt
Dass sich die Versicherer so früh nach dem 2. Weltkrieg zusammentaten, um eine gemeinsame politische Interessensvertretung aufzubauen, war den großen Herausforderungen der Zeit geschuldet. Mehr als andere Branchen waren die Unternehmen auf gleiche Vorschriften in ihrem Geschäftsgebiet angewiesen, das sich nun in drei westliche Besatzungszonen aufteilte. Dazu kamen die finanziellen Verluste aufgrund der Kriegszerstörungen, der Enteignungen in der sowjetischen Besatzungszone und dem Verlust der Ostgebiete, die viele Unternehmen in ihrer Existenz bedrohten.
Obendrein war die Aufsicht völlig zersplittert: Mit Kriegsende war das Reichsaufsichtsamt für das Versicherungswesen in Berlin als Hauptträger der Aufsicht auseinandergebrochen. Während in der britischen Besatzungszone das Prinzip der einheitlichen Aufsicht zunächst gewahrt blieb, folgten Franzosen und Amerikaner dem Prinzip der Dezentralisierung und übertrugen die Kontrolle über die Unternehmen auf die Länder. So hatten es die Versicherer innerhalb einer Besatzungszone mit teilweise bis zu zehn Aufsichtsämtern zu tun.
Private und öffentlich-rechtliche Versicherer agieren erstmals gemeinsam
Wie groß in dieser schwierigen Lage das Bedürfnis nach einer gemeinsamen Interessensvertretung war, zeigt die Tatsache, dass bereits am 1. Juli 1948, nur wenige Wochen nach der Gründungsversammlung, schon 346 Versicherungsunternehmen dem GDV beigetreten waren. Angesichts der enormen Herausforderungen rückte auch der Gegensatz zwischen den privaten und öffentlich-rechtlichen Versicherern in den Hintergrund.
Deren Verhältnis war über Jahrzehnte angespannt: In den 1920er-Jahren tobte in Deutschland die Sozialisierungsdebatte, in der es auch um eine Verstaatlichung des Versicherungswesens ging. Die öffentlich-rechtlichen Versicherer – die sogenannten "Societäten" – versuchten sich damals als "weitgehend soziale Gebilde" von der Privatwirtschaft abzugrenzen. Zugleich sorgte das Vordringen der öffentlichen Konkurrenz, die ihre Wurzeln als Brand- und Gebäudeversicherer hatte, in immer neue Geschäftsfelder für Unmut bei den Privatunternehmen. Die vielfältigen Probleme nach dem Krieg überwanden diesen Konflikt. Seit Gründung des GDV tritt die Versicherungswirtschaft geeint auf – im Unterschied zum Bankensektor, der bis heute in einen privaten, einen genossenschaftlichen und Sparkassen-Verband zersplittert ist.
Neben dem GDV existieren etliche Fachverbände
Einziges Sprachrohr für die Assekuranz war der GDV in der Anfangsphase jedoch nicht. Neben ihm existierten verschiedene Fachverbände: Lebens-, Transport-, Sach- oder Krankenversicherer. Dieses enge Netz aus Interessensgruppen gab es schon vor dem Krieg. Dies hatte historische Gründe und folgte in gewisser Weise auch dem Gebot der Spartentrennung. In der Lobbyarbeit teilten sich die Gruppen auf: Sparten- und produktbezogene Anliegen regelten die Fachverbände selbst, der GDV kümmerte sich um die übergeordneten politischen Themen.
War es in den Gründungsjahren der Bundesrepublik der Kampf um eine einheitliche Aufsichtsbehörde – das Bundesaufsichtsamt für das Versicherungs- und Bausparwesen wurde schließlich 1951 gegründet –, ging es in den Folgejahren um den kommerziellen Wiederaufbau des Sektors. Trotz der Währungsreform 1948 blieben viele Vermögensfragen ungeklärt, dies betraf beispielsweise die ausgefallenen Zinsen aus Staatsanleihen nach der Kapitulation 1945. Die Auseinandersetzungen zwischen den Versicherern und dem Staat um die sogenannten Ausgleichsforderungen, die sich am Ende auf gut 5 Mrd. DM beliefen und die vor allem bei den Lebensversicherern einen Großteil des Vermögens ausmachten, endete erst 1965 mit dem "Gesetz über die Tilgung von Ausgleichsforderungen" – gut eineinhalb Jahrzehnte nach der Währungsumstellung.
Europäische Integration dominiert die Verbandsarbeit
Weitere Meilensteine in der Geschichte des GDV waren die Gespräche mit der Bundesregierung über die Beteiligung des Sektors am Wiederaufbau Deutschlands, bei dem die Versicherer beispielsweise als Finanzier der Grundstoffindustrie oder des sozialen Wohnungsbaus eine wichtige Rolle einnahmen. Auch in den Verhandlungen über eine Sonderbehandlung der Versicherer im Kartellrecht vertrat der GDV die Branche.
Und nicht zuletzt war es der Gesamtverband, der sich – beginnend schon in den 1950er-Jahren – für die Belange der deutschen Versicherer bei der wirtschaftlichen Integration Europas einsetzte. Die Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs führte zu zahlreichen Änderungen, etwa bei der Zulassung von Unternehmen, den Eigenkapitalanforderungen und auch im Versicherungsaufsichtsrecht.
Internationalisierung beschleunigt Diskussion über Verbandsreform
Nicht zuletzt wegen der wachsenden Bedeutung des europäischen Binnenmarkts nahmen in der Folgezeit die Komplexität des Geschäfts und die spartenübergreifenden Fragestellungen immer weiter zu. Daher mehrten sich auch die Stimmen in der Branche, die eine Verbandsreform forderten. Viele hielten es für klüger, die Kräfte zu bündeln und mit einer starken Stimme zu sprechen. Ein erster Anlauf für eine Verbändefusion im Jahr 1985 scheiterte jedoch.
Es sollte noch elf Jahre dauern, ehe – nun im wiedervereinigten Deutschland – die Fusion der Fachverbände in die Tat umgesetzt wurde. 1996 wurden der Verband der Lebensversicherungsunternehmen e.V. und der Verband der Schadenversicherer e.V., der bereits aus mehreren Einzelverbänden hervorgegangen war, auf den GDV verschmolzen. Als einzige selbstständige Fachvereinigung blieb der Verband der Privaten Krankenversicherung e.V. übrig. Anfang 1998 zog der "neue" GDV von Bonn nach Berlin – als einer der ersten Spitzenverbände der Deutschen Wirtschaft überhaupt. Der GDV war damit der Politik voraus: Das Parlament folgte erst ein Jahr später in die neue alte Hauptstadt.
Spartentrennung lebt im GDV fort
Die historisch gewachsene Spartenteilung lebt bis heute im Gesamtverband fort. So gibt es im GDV einerseits den Präsidialausschuss "Altersvorsorge und Zukunftssicherung", der die Lebensversicherungsthemen vereint, und den Präsidialausschuss "Risikoschutz für Gesellschaft und Wirtschaft", in dem die Themen der Haftpflicht-, Sach-, Kfz- und Transportversicherer gebündelt sind. Das Bindeglied bildet der Präsidialausschuss "Unternehmenssteuerung und Regulierung", der sich um übergeordnete bilanzielle und aufsichtsrechtliche Fragen kümmert. Über ihre Vorsitzenden sind die drei Ausschüsse zugleich im Präsidium des Verbandes vertreten.
Der GDV vertritt mittlerweile rund 460 Mitglieder, zu denen international agierende Player genauso gehören wie lokal verwurzelte Unternehmen, Vollversicherer wie Spezialanbieter, Hunderte Jahre alte Traditionsfirmen ebenso wie junge Insurtechs. Der Kapitalanlagebestand des Sektors umfasst rund 1,8 Billionen Euro, zusammen beschäftigen die Unternehmen und Vermittler rund 490.000 Frauen und Männer.
Die Zahlen belegen nicht nur den Erfolg des Sektors in der Vergangenheit. Sie unterstreichen auch sein Potenzial zur Gestaltung der Zukunft. Die der GDV als starke Stimme einer leistungsstarken Branche weiter mitgestalten wird. (K. Röbisch/GDV)