Geht es um die Analyse von Unfalldaten, spielt alles eine Rolle: Anstoßwinkel, Aufprallgeschwindigkeit, Verzögerung – je mehr Informationen vorliegen, umso besser. Idealerweise kann der Computer mit den kompletten Telematikdaten des Fahrzeugs gefüttert werden, um die zu erwartenden Folgen des Crashs möglichst genau abzuschätzen.
Abgleichen der Datenflut
Im nächsten Schritt gleichen die beiden Systempartner DEKRA und Spearhead diese Datenflut mit der historischen Unfalldatenbank der Sachverständigen- und Überwachungsorganisation ab. Gibt es ein "Match", passen also die aktuell generierten Infomationen zu einem früheren Unfall, ist das System in der Lage, eine erste Einordnung des entstandenen Schadens vorzunehmen.
In einem weiteren Schritt können Bilder über einen Link hochgeladen werden. Diese spielen ebenfalls eine wichtige Rolle im Rahmen der Schadenanalyse: Künstliche Intelligenz kann sichtbare Schäden auf der Fahrzeugoberfläche erkennen und im Hinblick auf die Höhe des abgebildeten Schadens interpretieren. Was zusätzlich dazu unter der Oberfläche verborgen liegt, wurde im Idealfall auf Basis der Telematikdaten und dem Vergleichscrash in der historischen Datenbank herausgefunden. Wie immer bei der Anwendung von KI- und Deep-Learning-Systemen gilt: Je umfangreicher die zugrunde liegenden Informationen, umso genauer kann der Schaden von der Software eingeordnet werden. Zudem lernt die Maschine mit jedem Fall dazu.
Unverzichtbare Datenbank
Wenn es danach an die Kalkulation der Reparaturkosten geht, kann auf Millionen DEKRA-Datensätze zurückgegriffen werden, welche durch tagesaktuelle Ersatzteilpreise ergänzt werden. Bernd Grüninger Bereichsleiter Gutachten und Mitglied der Geschäftsleitung der DEKRA Automobil, ist von der Genauigkeit des Systems überzeugt: "Auf einer solch umfangreichen Basis lassen sich die Daten sehr gut miteinander in Einklang bringen und so eine voraussichtliche Schadenhöhe prognostizieren."
So gut die Informationsbasis der DEKRA auch sein mag, so schwierig geriert sich manchmal die Gegenseite: Es ist nicht immer möglich, auf die Telematikdaten der Hersteller zuzugreifen. Aus diesem Grund hat man bei Spearhead einen Plan B für die Schadenerstmeldung entwickelt: den dynamischen Fragenbogen.
Mehr Daten, weniger SV-Einsätze
Um möglichst viele Informationen zu sammeln, wird der am Unfall Beteiligte – etwa von einem Sachbearbeiter des Kfz-Versicherers – durch einen Fragenkatalog begleitet. Auch ohne Telematikdaten ist es möglich, zum Beispiel mittels gezielter Rückfragen in Sachen wichtiger Details, eine valide Einordnung des entstandenen Schadens durch das DEKRA/Spearhead-System vornehmen zu lassen.
Die Präzision der Teleexpertise, der Einschätzung der Schadenhöhe "auf Entfernung", steht und fällt also mit der Menge an Daten, auf die zurückgegriffen werden kann. Dies bedeutet z. B., dass die Einordnung häufiger Unfallarten bereits sehr präzise vorgenommen werden kann. "Für einen reinen Parkrempler mit einigen oberflächlichen Kratzern im Stoßfänger muss heutzutage demnach kein Kfz-Sachverständiger mehr zum Fahrzeug kommen", erklärt Bernd Grüninger.
Entlastung statt Entlassung
Genau solche Standardfälle der Schadenregulierung will man also deutlich schneller und effizienter abwickeln und setzt dabei auf Teleexpertise: Durch die maschinelle Einschätzung aus der Ferne dauert die Komplettabwicklung in der Regel vier Tage, was einen Geschwindigkeitsvorteil von mehreren Arbeitstagen bedeutet. Ob die Teleexpertise im Einzelfall ausreicht, entscheidet aktuell immer noch ein Experte.
Gerade bei den oben angeführten Kleinigkeiten wie den sprichwörtlichen "Kratzern im Lack" wird bereits laut darüber nachgedacht, solche Schadenfälle künftig direkt und automatisiert durchzuwinken. Bei einigen Versicherern ist laut Grüninger ein entsprechendes Vorgehen bereits hinterlegt. Die Schadenabwicklung zu verschlanken, ist dabei nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite sind die Kfz-Sachverständigen. Die sollen mit der Digitalisierung zwar aktiv entlastet, aber keinesfalls komplett überflüssig werden. "Die Aufwände für den Sachverständigen werden zwar niedriger", erklärt Grüninger, ist die Datenbasis allerdings gering oder der Unfallschaden komplex, werde man auch in Zukunft um die fundierte Einschätzung eines Sachverständigen nicht herumkommen, und dies sei auch nicht das Ziel der Digitalisierung bei DEKRA. Dass die hochspezialisierten Experten in Zukunft bei Kleinigkeiten nicht mehr zu Rate gezogen werden müssen, ist, mit Blick auf den Fachkräftemangel, der auch vor den Prüfdiensten nicht Halt macht, eine durchaus positive Entwicklung.
Fünf Bausteine
Der DEKRA Digital Service besteht insgesamt aus den folgenden fünf Bausteinen:
1. Die neue Software ermöglicht eine einheitliche, strukturierte und standardisierte Schadenaufnahme per dynamischem Fragebogen oder Telematikdaten und ist auch als geführter Self-Service für Endkunden möglich.
2. Im zweiten Schritt wird eine Regulierungsempfehlung inklusive Ermittlung eines Reparaturkostenkorridors, Wiederbeschaffungswert, Restwertprognose, Totalschadenindikator sowie eine Handlungsempfehlung zur bestmöglichen Abwicklung des Schadens abgegeben.
3. Aufgrund der bisherigen Ergebnisse und aller Bilder bewertet ein DEKRA Sachverständiger den Schaden in Bezug auf die Gesamtreparaturkosten und die zu erwartende Wertminderung (Teleprognose).
4. Auf Wunsch kann ergänzend dazu eine detaillierte Reparaturkostenkalkulation per Teleexpertise erstellt werden, zum Beispiel als Grundlage zur fiktiven Abrechnung.
5. Als fünfter möglicher Schritt besteht auch künftig die Chance auf eine Vor-Ort-Besichtigung als Basis eines vollumfänglichen Schadengutachtens.