Zwischen dem 15. und 19. Juli flog die gemeinnützige ADAC Luftrettung mehr als 70 Rettungseinsätze in den Krisengebieten in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen, darunter waren 65 Spezial-Windeneinsätze der beiden eigens aus München und Landshut an die Luftrettungsstation in Koblenz am dortigen Bundeswehr-Zentralkrankenhaus verlegten Windenhubschrauber. Bei diesen Einsätzen wurden rund 40 Menschen von Dächern oder aus von Wasser eingeschlossen Häusern oder Plätzen gerettet.
Wir geben nachfolgend das Interview der ADAC-Redaktion wieder, das mit dem Katastrophen-Einsatzleiter Jens Schwietring noch während der ersten Rettungseinsätze geführt wurde und das demzufolge auch noch deutlich unter den Eindrücken des aktuell erlebten Leids der Menschen steht:
Wie geht es den Menschen im Katastrophengebiet?
J. Schwietring: Die Bevölkerung ist äußerst angespannt, viele haben nur noch das Hemd am Leib. Die Menschen suchen ihre Angehörigen, wissen nicht, was mit ihnen passiert ist, haben Angehörige verloren.
Anstieg des Wassers von 80 cm auf 8 Meter – in nur 3 Stunden
Wie haben Sie den Beginn der Katastrophe erlebt?
J. Schwietring: Am Mittwoch (14. Juli, d. Red.) gab es die ersten Meldungen über das Hochwasser, und in der Nacht wurden die ersten Einheiten alarmiert. Wir haben dann sehr schnell gemerkt, dass Menschen von den Wassermassen in ihren Häusern eingeschlossen waren, von den Dächern geholt werden mussten. Es gibt einen kleinen Zufluss zur Oberahr, normalerweise ist er 80 Zentimeter flach, das Wasser ist dann in drei Stunden auf acht Meter gestiegen.
Was haben Sie und Ihr Team dann unternommen?
J. Schwietring: Als deutlich wurde, wie verheerend die Situation sich entwickelt, wurden wir vom Innenministerium angefordert, haben außerdem einen Windenhelikopter aus Bayern ins Katastrophengebiet verlegt. Der war am Donnerstag um 13 Uhr (15. Juli, d. Red.) hier in Koblenz. Von unserer Basis ist das Einsatzgebiet in elf, zwölf Minuten erreichbar.
Wie verliefen die ersten Stunden im Einsatz?
J. Schwietring: Die Situation war chaotisch. Zunächst war nicht klar, wo genau Menschen in Not waren. Über Funk wurden die Teams dann zu den Einsatzorten im Ahrtal dirigiert. Und beim Überflug sind wir auch immer wieder auf Rettungsbedürftige gestoßen.
"Zerstörungsausmaß mit einem Kriegsgebiet vergleichbar"
Konnten Sie selbst sich einen Eindruck vom Katastrophengebiet verschaffen?
J. Schwietring: Ja, am vergangenen Freitag (16. Juli, d. Red.). Ich war bis 2015 Soldat, habe an diversen Auslandseinsätzen teilgenommen. Die Situation ist nicht ganz deckungsgleich mit einem Kriegsgebiet, die Kraft des Wassers ist eine andere als die von abgeworfenen Bomben, aber das Ausmaß der Zerstörung ist vergleichbar. Es ist wirklich verheerend, die Infrastruktur ist zerstört, Gasleitungen, Wasserleitungen, Häuser sind vernichtet, die Bahnlinie durch das Tal ist einfach weg. Ich habe Bilder von einem Polizeihubschrauber gesehen, der das Schadensgebiet begutachtet hat. Ganze Ortskerne, viele Hundert Jahre alt, sind verschwunden, da sind jetzt Löcher, zwei Meter tief. Nur dadurch, dass am Rand noch ein paar Häuser stehen, ist erkennbar, dass dort mal ein Dorf war.
Wie gehen Ihre Kollegen mit den psychischen Belastungen um?
J. Schwietring: Zunächst muss man sagen, dass wir alle Profis sind. Aber das heißt natürlich nicht, dass man das nicht an sich heranlässt.
Halten sich derzeit Bewohner in den betroffenen Dörfern auf?
J. Schwietring: Ein Kollege, der am Samstag (17. Juli, d. Red.) unterwegs war, hat in Ortschaften, die Sie über den Boden nicht mehr erreichen können, gut 150 Menschen gesehen. Es gibt eingeschlossene Dörfer, die über Schleichwege, über die Weinberge zugänglich sind. Dort kommt man teilweise bis zum Ortsrand, aber das Dorf selbst ist so kaputt, voll mit Geröll, dann steht da schweres Gerät, man kann nicht mehr weiter. Zu den Notleidenden kommen Sie nur aus der Luft, die Helfer lassen sich abseilen und weiter geht es zu Fuß zum Patienten. Es gibt nicht einmal mehr Straßenschilder.
Haben sich Ihre Einsatzschwerpunkte in den vergangenen Tagen verändert?
J. Schwietring: Bis Sonntagabend (18. Juli, d. Red.) hatten wir vor allem Windeneinsätze, um die Leute aus dem zerstörten Gebiet zu holen oder Notärzte abzuseilen. Jetzt haben die Aufräumarbeiten begonnen, und auch das ist gefährlich in einem Areal, das so schwer erreichbar ist. Außerdem gibt es dort Menschen, die dringend zur Dialyse müssen oder Medikamente brauchen. An vielen Orten gibt es keinerlei Infrastruktur mehr, keine Hausärzte, keine Apotheken, da schwimmen Medikamente an Ihnen vorbei.
Wie lange wird der Einsatz der ADAC Luftrettung noch nötig sein?
J. Schwietring: In den nächsten Tagen sind wir sicher noch im Einsatz, in enger Abstimmung mit dem Innenministerium in Rheinland-Pfalz. Das muss man tageweise entscheiden. Für die Versorgung wird man viel Luftunterstützung brauchen, die können wir aber mit unseren Helis nicht leisten, dazu sind Bundeswehrhubschrauber besser geeignet. Und dann ist auch noch der Ausbruch von Infektionskrankheiten zu befürchten, der Boden ist feucht, es wird wärmer, Viren und Bakterien und Salmonellen werden sich ausbreiten. Auch Corona können wir nicht ausschließen. Das Hochwasser an sich ist schon eine Katastrophe, und dann kommen noch diese vielen anderen Herausforderungen hinzu.
Wie können die Menschen helfen?
J. Schwietring: Es ist eine große Menge an Sachmittelspenden eingegangen, es wird auch viel ausgegeben, weil sich die Menschen inzwischen wieder bewegen können. Und weil es noch eine ganze Zeit dauern wird, wird man viel Geld brauchen. Es sieht hier aus wie nach dem Zweiten Weltkrieg – und wir wissen, wie lange der Wiederaufbau damals gedauert hat. (kaf)