Von Thomas Strünkelnberg, dpa
Es war ein bis dahin unvorstellbarer Absturz für Volkswagen – und wie sich später zeigte: für die gesamte erfolgsverwöhnte Autobranche. Mit einem Schlag wurde die vielgerühmte deutsche Ingenieurskunst in Frage gestellt, selbstbewusste Manager wurden entthront, Anwälte und Verbraucherschützer bliesen zum Angriff auf die erschütterte Industrie-Ikone VW, Arbeitsplätze bei VW wurden gestrichen, viele Leiharbeiter mussten gehen.
All das ist "Dieselgate". Und doch ist es nur die halbe Wahrheit. Denn "Dieselgate", die Enthüllung millionenfacher Abgasmanipulation an VW-Dieselmotoren im Herbst 2015, brachte eine Wende, an die bei VW bis dahin so recht vermutlich niemand geglaubt hatte – eine Wende nicht nur in Sachen Unternehmenskultur, sondern vor allem hin zum Elektroauto. Seit "Dieselgate" wird die E-Mobilität akzeptiert und ernst genommen, während die viel beschworene Technik der Zukunft zuvor eher als "Alibi" eingesetzt wurde, wie Ferdinand Dudenhöffer sagte. Der tiefe Fall änderte also alles für VW – im Nachhinein wird man aber möglicherweise sagen: nicht nur zum Schlechteren.
Was war passiert? Die Umweltbehörden in den USA geben am 18. September 2015 bekannt, dass es bei Abgasmessungen von VW-Modellen nicht mit rechten Dingen zugegangen sei. Zu dem Zeitpunkt scheint VW auf dem Zenit, will größter Autobauer der Welt werden und Toyota ablösen. Am 20. September 2015 endet die Rekordfahrt im größten Crash der Konzerngeschichte. Die bis dahin so selbstbewussten Wolfsburger müssen "Manipulationen" an ihren Dieselmotoren einräumen. Am 23. September fegt der Skandal Vorstandschef Martin Winterkorn aus dem Amt. VW im Ausnahmezustand – und noch immer dauert die Aufarbeitung an, noch immer fährt VW wie die Branche im Modus der "Gefahrenabwehr", wie Experte Stefan Bratzel sagt.
Gratwanderung
Sicher ist: Deutschlands größter Industriekonzern befindet sich weiter auf einer Gratwanderung. VW stellt mit dem 2020 startenden Elektro-Hoffnungsträger ID und seinen Ablegern eine ganz neue Modellfamilie aufs Gleis, hat verstanden, wie wichtig Digitalisierung und Mobilitätsdienstleistungen sind – und geht auch kühn voran mit der 13. Konzernmarke Moia, die etwa Shuttle-Dienste anbieten soll. Gleichzeitig müssen die Verbrennungsmotoren weiterentwickelt werden, was Milliarden verschlingt. Außerdem muss VW Milliardenkosten für die "Dieselgate"-Folgen schultern, Ermittlungen an vielen Fronten hinnehmen und verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen.
Und all das, während die Krise eine ganze Branche erfasst: "Im Prinzip hat sich die Abgasaffäre zu einer generellen Diesel-Affäre weiterentwickelt", urteilt Bratzel. Sogar Fahrverbote in mehreren Städten sind im Gespräch – der schmutzigen Dieselfahrzeuge wegen, die auf der Straße weitaus mehr Stickoxid ausstoßen als bei Tests auf dem Prüfstand. Und das betrifft nicht mehr nur Volkswagen. Um dem Dilemma zu entkommen, lässt sich VW auf eine wahre Rabattschlacht ein und bietet Besitzern alter Diesel Preisnachlässe von bis zu 10.000 Euro – wenn sie einen Euro-6-Neuwagen von VW oder Audi kaufen.
Zwar hat sich vermutlich niemand vorstellen können, welches Ausmaß die Krise annehmen würde. Aber zwei Jahre nach Bekanntwerden des Skandals ist auch klar: Der Wolfsburger Autoriese muss und will sich neu erfinden, ist auch schon mittendrin in dem Prozess, der allerdings schmerzlich zu werden verspricht. "Für die baulich einfacheren Elektroantriebe werden weniger Beschäftigte gebraucht, das kann man drehen und wenden, wie man will", sagte IG-Metall-Chef Jörg Hofmann erst kürzlich.
Zukunftspakt
Dabei hatte die Belegschaft bereits eine echte Kröte schlucken müssen: Der "Zukunftspakt", dem Betriebsratschef Bernd Osterloh nach langem Ringen mit VW-Markenchef Herbert Diess zustimmte, ist bei allen notwendigen Ausgaben für Innovationen vor allem eines: ein Sparprogramm, das unter anderem den Wegfall von weltweit bis zu 30.000 Jobs vorsieht – allerdings ohne betriebsbedingte Kündigungen. Dafür sollen Tausende Arbeitsplätze in Zukunftsfeldern entstehen.
Tatsächlich wird der Umstieg auf Elektroautos einer Studie zufolge in den kommenden Jahren Zehntausende Arbeitsplätze in der Branche kosten – die gleichzeitig fortschreitende Digitalisierung der Fahrzeuge könnte den Verlust aber in großen Teilen auffangen. Dudenhöffer geht davon aus, dass Volkswagen seine Marktposition stabilisieren wird – und sieht den Autoriesen auch beim Elektroauto alles andere als abgehängt: "Es ist ein offenes Rennen." Daher geht er davon aus, dass es keine großen Entlassungswellen geben wird.
Dennoch wird VW die Geister der Vergangenheit vermutlich so schnell nicht los, nicht nur, weil neben Investoren und Schadenersatzklagen auch strafrechtlich ermittelt wird. Es geht um möglichen Betrug und Marktmanipulation – ermittelt wird auch gegen Ex-Chef Winterkorn sowie gegen den früheren Finanz- und heutigen Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch. Sondern auch, weil VW sich vor allem in Deutschland offensichtlich den Unwillen seiner Kunden zugezogen hat. Die Marktanteile sinken nach Dudenhöffers Angaben – während die VW-Kernmarke mit Golf, Passat und Co. Anfang 2015 auf einen Marktanteil von 24,5 Prozent kam, waren es im vergangenen August noch 17,2 Prozent.
Neuanfang
Sind das günstige Bedingungen für einen glaubwürdigen Neuanfang? "Vertrauen gewinnen Sie nicht über Nacht", gibt Dudenhöffer zu bedenken. "Stück für Stück kommt man dahin, die Krise hinter sich zu lassen." Bratzel betont, der Schlag der Diesel- und Abgaskrise sitze tief. Aber: Die Krise sei ein Katalysator für die Entwicklung der Elektromobilität, ohne sie hätte man möglicherweise nicht so schnell die nötige Kraft aufgebracht, meinte er: "Das war ein Riesen-Wachmacher."
Der dürfte nötig sein angesichts des enormen Wandels, der die ganze Branche beschäftigt. Bratzel fragt beispielhaft, wie viele Hersteller von Dampfloks den Übergang zu Diesel- und E-Loks überstanden hätten. Ergebnis: keiner. In einer solch vernichtenden Lage sieht er Volkswagen keineswegs, dennoch werde das Wolfsburger Weltreich in den nächsten 20 Jahren kaum wiederzuerkennen sein.
VW-Konzernchef Matthias Müller hat einen Kulturwandel bei Volkswagen ausgerufen, dessen Anfang zwar holprig verlief, der aus Expertensicht aber notwendig ist, um den Spagat zwischen alter und neuer Autowelt zu bewältigen. Anfangs fiel es schwer, an das Ende von Hochmut und Kommandoton in Wolfsburg zu glauben, als Müller in einem US-Radiointerview die Abgasaffäre als "technisches Problem" abzutun schien. Gerade erst allerdings betonte der VW-Lenker vor rund 300 Mitarbeitern, Volkswagen wolle aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und nicht länger entlang rechtlicher Grauzonen balancieren. Auch er bestätigte, der Abgas-Skandal habe die überfällige Öffnung des Autobauers für Digitalisierung sogar beschleunigt.
Wie erlebte Müller zwei Jahre Dieselaffäre? Die zurückliegenden beiden Jahre seien die intensivsten und schwierigsten seines Berufslebens gewesen, sagte er den VW-Beschäftigten: "Ich kann mir gut vorstellen, wie belastend es für Sie sein muss, wenn plötzlich alles in Frage gestellt und vieles verzerrt wird."
Die Ironie der Geschichte: Erst nach Bekanntwerden des Abgasbetrugs und dem unrühmlichen Abgang Winterkorns erreichte Volkswagen sein Ziel – und wurde zeitweise der größte Autobauer der Welt.