Von Jan-Henrik Petermann und Andreas Hoenig, dpa
Der Abgas-Skandal zwingt Volkswagen zu einer schnelleren Neuausrichtung des riesigen Autokonzerns. "Wir werden es nicht zulassen, dass uns diese Krise lähmt", sagte Vorstandschef Matthias Müller am Donnerstag bei der Vorlage einer ersten Zwischenbilanz. "Wir nutzen sie als Katalysator für den Wandel, den Volkswagen braucht." Strukturen und Denkweisen müssten sich ändern, auch damit künftig ähnliche Krisen verhindert werden. Die Folgen des Abgas-Skandals sind allerdings immer noch gravierend.
Wenn es Europas größtem Autobauer gelinge, aus den millionenfachen Falschangaben zum Stickoxid-Ausstoß von Dieselwagen Lehren zu ziehen, könne es wieder bergauf gehen, sagte Müller. "So ernst die aktuelle Situation auch ist: Dieses Unternehmen wird nicht daran zerbrechen." Das Top-Management werde VW künftig weniger zentralistisch führen. "Diese Neuausrichtung wäre früher oder später ohnehin nötig gewesen", meinte der Vorstandschef. Einen Absatzeinbruch gebe es bisher nicht.
Bei der Suche nach Verantwortlichen für den weltweiten Diesel-Skandal hat die VW-Spitze weiterhin nur einen relativ kleinen Kreis von Verdächtigen im Visier. "Wir halten es für wahrscheinlich, dass nur eine überschaubare Zahl an Mitarbeitern aktiv zu den Manipulationen beigetragen hat", sagte Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch in Wolfsburg. Erstmals seit Ausbruch der Krise stand die VW-Spitze der Öffentlichkeit Rede und Antwort.
Inzwischen habe man über 1.500 elektronische Datenträger eingesammelt, um Hinweise auf den Ursprung der Affäre zu finden. Es seien zudem 87 Interviews im Rahmen der Ermittlungen geführt worden. "Viele weitere werden noch folgen", kündigte Pötsch an. Rund 450 Experten arbeiteten an der Aufklärung. Ziel sei es, bis zur Hauptversammlung am 21. April 2016 einen vollständigen Überblick über die Ergebnisse zu liefern.
VW hatte Mitte September zugegeben, in rund elf Millionen Dieselmotoren eine Software eingesetzt zu haben, die Daten zum Ausstoß gesundheitsschädlicher Stickoxid-Abgase schönte. Für die Bewältigung der Krise wurden bisher Rücklagen von 6,7 Milliarden Euro gebildet.
Emissionstests künftig extern
Als Reaktion auf den Skandal will VW unter anderem in der Entwicklungsarbeit strenger auf die Einhaltung von Regeln zu achten. So werde etwa bei der Software-Entwicklung für Motorsteuergeräte auf das Vier-Augen-Prinzip gesetzt, um Manipulationen zu erschweren. Eine zentrale Konsequenz sei außerdem eine weitreichende Änderung der Prüfungspraxis. So sollen Emissionstests künftig grundsätzlich extern und unabhängig untersucht werden, hieß es.
Pötsch sagte, der Abgas-Skandal sei eine der größten Bewährungsproben in der Volkswagen-Geschichte. "Die Krisenfolgen werden vermutlich beträchtlich sein", meinte er mit Blick auf die finanziellen Auswirkungen. Es gehe darum, das Vertrauen von Kunden, Investoren, Mitarbeitern und Öffentlichkeit zurück zu gewinnen. VW werde "schonungslos" aufklären: "Alles kommt auf den Tisch, nichts wird unter den Teppich gekehrt."
Anfang Januar soll der Rückruf der betroffenen Dieselautos starten. Verbraucherschützer fordern Klarheit für die Kunden. Die Autofahrer erwarteten, "dass VW endlich aufklärt, wie der Rückruf abgewickelt und wie der Konzern weitere Ansprüche entschädigen wird", sagte der Chef des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv), Klaus Müller. "Insbesondere ein möglicher Wertverlust des Autos oder Mehrverbrauch nach Umrüstung darf nicht zulasten der Verbraucher gehen."
"Fehlerkette" führte zu NOx-Problemen
Nach Angaben Pötschs kommt die Aufklärung der Affäre voran. Der Ursprung der "Stickoxid-Thematik" habe weitgehend nachvollzogen werden können: "Sie stellt sich nicht als einmaliger Fehler, sondern als Fehlerkette dar, die nicht durchbrochen wurde."» Ausgangspunkt sei die groß angelegte Diesel-Offensive von VW im Jahr 2005 gewesen.
Der Konzern steckte damals in den USA in einer Absatzkrise und hinkte der Konkurrenz hinterher. Man habe keinen Weg gefunden, strengere Stickoxid-Normen in den Vereinigten Staaten im vorgegebenen Zeit- und Kostenrahmen zu erfüllen. So sei es zum Software-Einbau gekommen. Die Führung habe nichts vom Betrug gewusst. "Wir haben keine Erkenntnisse über die Involvierung von Aufsichtsrat oder Vorstand vorliegen." Müller unterstrich in den "Tagesthemen", das Ganze habe sich "im mittleren Management und darunter abgespielt".
"Wir brauchen keine Ja-Sager"
Volkswagen hatte bereits eine Neuausrichtung des Konzerns auf den Weg gebracht. So sollen die Marken und Regionen künftig mehr Verantwortung bekommen. Beim von Müller ausgerufenen "Kulturwandel" geht es darum, enger zusammenzuarbeiten und eine offene Diskussion über Fehler zuzulassen. Müller: "Wir brauchen keine Ja-Sager, sondern Manager und Techniker, die mit guten Argumenten für ihre Überzeugungen und ihre Projekte kämpfen – die unternehmerisch denken und agieren."
Dieses veränderte Unternehmensklima sieht Müller – neben Integrität und Nachhaltigkeit – als zentrale Säule beim Umbau an. Hinzu kommen die Digitalisierung und der Ausbau der bisher schleppend angelaufenen Elektromobilität. "Unser Anspruch ist es, diesen Entwicklungen nicht hinterherzulaufen, sondern sie maßgeblich mitzugestalten."
PR