Simulatoren, mit denen man virtuell mit einem Fahrzeug auf einer Rennstrecke unterwegs sein kann oder als Pilot ein Flugzeug steuert, sind schon lange im Einsatz. Sie dienen nicht nur Laien als Freizeitvergnügen, sondern werden auch zur Ausbildung eingesetzt. Nicht nur angehende Piloten werden an Simulatoren geschult, auch Fahrschulen nutzen sie, um Fahrschüler mit den Grundlagen des Autofahrens vertraut zu machen. Simulatoren gehören aber auch längst in der Forschung und Entwicklung zum Arbeitsalltag dazu, so auch in der Reifenindustrie.
Die virtuelle Entwicklung von Reifen gehört auch bei Pirelli zum Alltag. Nach einem Virtual Development Center (VDC) am Stammsitz in Mailand gibt es seit knapp einem halben Jahr auch eins im Pirelli-Werk in Deutschland in Breuberg. Das freut Pirelli-Deutschland-Chef Wolfgang Meier, stärkt damit der Reifenhersteller doch den deutschen Standort. Hier produzieren 2.500 Mitarbeiter Reifen und 250 Ingenieure forschen am Reifen von morgen und übermorgen.
Und zu tun, gibt es viel. Besonders bei den E-Fahrzeugen haben sich die Entwicklungszyklen beschleunigt. Da müssen die Reifenhersteller, die wie Pirelli, Michelin oder Goodyear in der Erstausrüstung tätig sind, mithalten. Das virtuelle Testen im Simulator hilft dabei. Pirelli-Technikchef Thomas Michel gibt als Zeitersparnis für die Entwickler rund 30 Prozent an. Es müssen auch rund ein Drittel weniger Testreifen produziert werden, das senkt die Kosten und reduziert den Verbrauch von Material und CO2. Es sind auch weniger Testfahrten auf Straßen nötig, auch da freuen sich der Controller und die Umwelt.
Pirelli-Reifentests am Simulator
BildergalerieBeim Pirelli-VDC handelt es sich um einen statischen Simulator
Und wie laufen virtuelle Testfahrten ab? Beim Pirelli-VDC handelt es sich um einen statischen Simulator. Das heißt: Das Fahrzeug steht fest in einem Raum, bewegt sich nicht. Ein riesiger Bildschirm umgibt das Testfahrzeug. Aus einem großen Kontrollraum mit vielen Computern wird das Ganze gesteuert und überwacht. Bevor es aber so weit ist, haben die Programmierer und -Techniker viel Input ins System eingegeben. Das besteht zum einen aus Erfahrungswerten, die Pirelli bei der Reifenentwicklung gewonnen hat –also die eigene Reifen-DNA. Soll nun für ein neues, zukünftiges Modell ein passender Reifen entwickelt werden, liefert der Hersteller wichtige Daten zum Auto. Diese Parameter etwa zum Fahrwerk, Beschleunigung und Leistung werden ebenfalls in den Computer eingespeist.
Sind alle Computer bereit, beginnt die Arbeit des Testfahrers. Sein Arbeitsplatz ist in Breuberg ein ausgedienter Porsche, der früher zu Reifentests genutzt wurde und statt verschrottet zu werden, ein zweites Leben im Dienst der virtuellen Erkundungsfahrten erhalten hat.
Rennstrecke? Landstraße? Autobahn? Alles ist möglich ...
Der Testfahrer nimmt hinter dem Volant Platz, schnallt sich mit einem Fünfpunktgurt an und die Erprobungsfahrt kann beginnen. Eine virtuelle Brille muss der Tester nicht tragen. Der umgebende Bildschirm zeigt das Setting an: Rennstrecke? Landstraße? Autobahn? Alles ist möglich. Auch bei Wetterbedingungen kennt das System keine Grenzen, so dass Winter-, Sommer- oder Ganzjahresreifen getestet werden können, egal welche Kapriolen das Wetter draußen gerade schlägt. Im Fokus stehen die Reifeneigenschaften wie Akustik, Abrieb und Rollwiderstand, aber auch sein Verhalten bei Aquaplaning.
Ein Druck auf den Startknopf erweckt das Testfahrzeug zum Leben. Auch wenn alles nur statisch abläuft, ist der alte Porsche so hergerichtet, dass er möglichst viel Rückmeldung gibt. Bei starken Beschleunigungsvorgängen simulieren die Gurte ein Hineinpressen in den Sitz. Sensoren vorne und hinten am Fahrzeug imitieren etwa Dämpferbewegungen und reagieren beim Kurvenein- und ausfahren, das Lenkrad gibt haptische Rückmeldung. Ziel ist, das virtuelle Fahren so lebensecht wie möglich zu gestalten. Dazu gehört auch, dass der Testfahrer bei Fahrfehlern zum Beispiel den Kiesuntergrund der Auslaufzone einer Rennstrecke spürt. Sollte er die auch im VDC geltenden physikalischen Gesetze unterschätzen und „abfliegen“, „dreht“ er sich, aber nur auf dem Bildschirm, Schäden entstehen keine. Virtuelles Fahren schont auch das Material.
Bestimmte Fahrabläufe werden immer wieder unter denselben Bedingungen abgespult
Die meisten Zeit jedoch geht es digitalen Raum ganz unspektakulär zu. Wie bei analogen Testfahrten werden bestimmte Fahrabläufe immer wieder unter denselben Bedingungen abgespult. Alles muss vergleichbar sein. Die Ingenieure am Computer registrieren das Fahrzeugverhalten, analysieren wie es durch Lenk-, Beschleunigungs- und Bremseingriffe am virtuellen Fahrzeug beeinflusst wird und passen das Reifensetting gegebenenfalls an. Doch auch der Fahrer ist gefragt. Der berühmte Popometer ist auch im virtuellen Umfeld unverzichtbar. Die Ergebnisse überzeugen. Technik-Chef Michel erstaunt es (noch) immer, wie treffsicher die virtuellen Entwicklung Ergebnisse liefert. Ein Grund ist sicherlich, dass Testfahrer und Ingenieure sich verstehen. Die meisten Pirelli-Testfahrer sind Ingenieure bzw. Programmierer. Umgekehrt haben die im VDC tätigen Ingenieure zumindest motorsportliche Grundkenntnisse.
Nicht alles lässt sich virtuell testen. Nachdem das Grundsetting eines Reifens im VDC erfahren wurde, setzt sich das Testen auf realen Straßen und Rennstrecken fort. Ist der Hersteller mit den Reifenergebnissen zufrieden, wird der Pirelli-Pneu ab Werk mit dem neuen Modell ausgeliefert. Das ist nicht nur gut für das Prestige eines Reifenherstellers, sondern beflügelt auch das Ersatzreifengeschäft. Viele Autobesitzer halten der Erstausrüstungsmarke die Treue, wenn neue Reifen fürs Auto fällig werden - ganz analog.