Es ist ein Rausch an Farben und Formen, eine bis ins Detail inszenierte Welt rund um Würdenträger, Künstler, Sportler oder Models wie Stil-Ikone Naomi Campbell. Prince Gyasi, 1995 geborener Fotograf aus Accra/Ghana, treibt es in der 50. Auflage des weltberühmten Pirelli-Kalenders kunterbunt. Kein Wunder, denn der Shooting Star der Lichtbildner-Szene denkt und spricht in Farben. Und das ist wörtlich zu verstehen. Die Arbeiten sind von seinen ganz persönlichen Erfahrungen mit dem neurologischen Phänomen der Synästhesie beeinflusst, er assoziiert Farben mit Worten und inszeniert seine Fotos wie opulente Gemälde. Schönheit, Farben, Licht – einen "optimistischen Zugang zur Zukunft" nennt der kunstbegeisterte Pirelli Executive Vice Chairman Marco Tronchetti Provera das Ergebnis der Fotosessions in London und Ghana. "Das ist Tradition ohne die Last der Vergangenheit." Und zugleich ist es ein Blick auf einen noch immer unterschätzten Kontinent voller Potenzial.
Prince Gyasi hat für "The Cal 2024" den Titel "Timeless" gewählt. Sein Credo: "Wir werden nicht zeitlos geboren, aber wir werden es". Passenderweise hat deswegen auch Naomi Campbell auf einem der Kalenderblätter mit dem Titel "Time Stopper" einen von einer riesigen Uhr abmontierten Zeiger in der Hand – deutlicher lässt sich die Zeitlosigkeit nicht darstellen. Als Aufruf, sich mit dem Hier und Jetzt zufrieden zu geben, ist der Kalender-Titel aber nicht zu verstehen. Vielmehr will Prince Gyasi vor allem junge Menschen dazu ermutigen zu lernen, zu kreieren und damit andere zu inspirieren: „Ich hoffe sie verstehen, dass sie alles tun können was sie tun möchten, wenn sie sich nur genug Mühe geben und zielstrebig sind.“
Genau diese Zielstrebigkeit hat er an seinen Kalender-Protagonisten ausgemacht: "Sie haben ihre Stärken gefunden und ihr Schicksal verändert", sagt er über so gegensätzliche 2024er-Modelle wie Schauspieler Idris Elba, Aschanti-Monarch Otumfuo Osei Tutu II. oder die junge Poetin Amanda Gorman. Sie alle stehen mit ihrem Auftritt im Pirelli-Kalender in einer beeindruckenden Zeitreihe mit unzähligen Stars und Sternchen dieses nicht käuflichen, sondern alljährlich an ein paar tausend ausgewählte Freunde der Marke verschickten Kalenders.
Pirelli Kalender 2024
BildergalerieGroße Namen vor und hinter der Kamera sind geradezu ein Markenzeichen des in seinen Anfängen 1964 als Werbegeschenk für Großkunden gedachten Bild-Werks. Zunächst teils dem männlich dominierten "Publikumsgeschmack" entsprechend gerne noch mit reichlich nackter Haut, zum Teil auch mit vorsichtigen Assoziationen an die Pirelli-Produkte – etwa in Form von Abdrücken des neuesten Sport-Reifens im Sand neben den Models. Im Lauf der Jahre entwickelte sich "The Cal" aber kontinuierlich weiter, erlangte schnell Kultstatus. Seither bilden die renommiertesten Fotografen ihrer Epoche für ihn nicht nur die berühmtesten Models, Schauspielerinnen und Künstler ab. Sie schaffen auch zeitgenössische Kultur, interpretieren den herrschenden Zeitgeist, setzen neue Trends. Und zwar ohne Einflussnahme durch den Auftraggeber. "Die Lichtbildner seien frei, sich selbst auszudrücken", betont Pirelli-CEO Marco Tronchetti Provera ein wichtiges Prinzip seines Unternehmens. Das jahrzehntelange Engagement in Sachen Kalender erklärt er so: Um als Firma über Jahrzehnte zu wachsen, müssten Kunst, Industrie und Politik mit der Gesellschaft wachsen.
Ganz ohne Leerstellen ist die Jahres-Chronik des Pirelli-Kalenders übrigens nicht. So wurde von 1975 bis 1983 auch bei Pirelli gespart, die weltweite Rezession und eine anschließende Phase klammer Kassen beendeten das Projekt vorübergehend. 2021 bremste das Corona-Virus die Produktion aus. Deshalb ist der 2024er-Kalender auch "erst" der 50. in 60 Jahren. Wie es aussieht, hat Prince Gyasi mit seinem Titel "Timeless" nicht nur für seine eigenen Bilder voll ins Bunte getroffen. Sondern auch für "The Cal" insgesamt – in der Vergangenheit und in der Zukunft.
Claudia Wolf