Von Peter Weißenberg/SP-X
Geheim, geheimer, Abgaszentrum: Normalerweise lässt Volkswagen niemand Fremden in den Wolfsburger Trakt mit der höchsten Sicherheitsstufe. Schließlich werden hier alle kommenden Entwicklungen des Konzerns auf Verbrauch und Emissionen getestet. Doch Richard Preuß darf heute mal eine Ausnahme machen. Denn der Herr über die mehr als 100 Millionen teuren 21 Prüfstände von VW soll für Transparenz sorgen - schon im Ansatz. Nach dem Höhepunkt der Dieselkrise geht es in den kommenden Monaten darum, für Vertrauen in neue Abgasnormen zu werben. In zehn Monaten muss jeder Neuwagen den Verbrauch nach der "Worldwide harmonized Light vehicle Test Procedure" ausweisen. Und die Wahrheit hinter WLTP, sie wird weh tun.
Bei Preuß und seinen Mitarbeitern ist das schon jetzt der Fall: "Statt 40.000 machen wir inzwischen 55.000 Abgasmessungen im Jahr - und bald werden es 70.000 sein." Sechs Tage, zwei Schichten und Nachteinsätze sind angesagt. Sechs neue Prüfstände sind im Bau. WLTP ist eine Mammutaufgabe. Zehn Jahre lang haben Ausschüsse der Vereinten Nationen die globale Norm geplant, die endlich realistischere Verbrauchsangaben bringen soll. "Schon lange vor der Abgasaffäre", wie Volkswagens Projektleiter für WLTP Jan Dossing betont. Die Vorfälle haben aber sicher den Prozess noch mal dramatisiert.
Reale Nutzungsdaten normaler Autofahrer
Die neue Norm für die Prüfstand-Tests setzt an mehreren Stellen an: Zunächst mal wurde dafür nicht wie beim Vorgänger NEFZ einfach in Fachkreisen am grünen Tisch ein genormter Testparcour definiert. Zwar pedantisch bei der Vorgabe für Reifen, zu verwendendem Öl oder exakter Temperatur - aber weltfremd in seinem Mix aus Schleichtempo von durchschnittlich 34 Stundenkilometern und Höchstgeschwindigkeit von mickrigen 120 für gerade einmal zehn Sekunden. Bei WLTP liegen reale Nutzungsdaten ganz normaler Autofahrer aus China, den USA, Indien oder Europa dem Testaufbau zugrunde. Im Unterschied zu NEFZ muss für die Typgenehmigung jetzt länger gefahren werden, mit weniger Stillstand, bei höheren Geschwindigkeiten bis zu mehr als 130 Stundenkilometern und auch bei kälteren Temperaturen.
Wichtigster Unterschied: "Es reicht jetzt nicht mehr, allein für eine Kombination von Motor und Getriebe einen allgemeingültigen Verbrauchswert zu bestimmen", so Preuß. Stattdessen muss jede mögliche Kombination mit den verschiedenen möglichen Ausstattungen einzeln abgeprüft und genehmigt werden. Und zwar, wenn diese Option den Rollwiderstand verändert, das Gewicht oder die Aerodynamik. Also etwa der 1,2-Liter-Benziner mit DSG - aber mit und ohne Schiebedach, mit und ohne Dachspoiler, mit und ohne schwereren Metalliclack … und jede daraus mögliche Mischung, die der Kunde bestellen kann. "Das sind allein bei einem Golf etwa Tausende Kombinationen - ein Riesenaufwand", so Preuß. Doch durch das Zubehör wird eben der Abgas- und Verbrauch bewegt. Und das blieb dem Kunden bisher verborgen, wenn er etwa nur die Verbrauchsdaten der Normalversion im Prospekt sah.
Auch daher ist schon vor der Abgasaffäre mancher Frust der Verbraucher gekommen - wenn reale Verbrauchswerte und Normangaben der Hersteller ganz weit auseinanderklafften. Auch mit WLTP wird das natürlich noch passieren - zum Beispiel, wenn der Kunde gern mal später bremst, die Gänge ausfährt oder stärker beschleunigt. Die Norm-Werte werden aber dennoch dem wirklichen Verbrauch deutlich näherkommen, so Preuß.
Zumal es in Europa nicht allein bei WLTP bleibt. Die Hersteller müssen für alle Neuwagen zudem ab September 2018 nachweisen, dass keine Version eines Modells bei Temperaturen unter minus sieben oder über 35 Grad und mit fast maximaler Zuladung die WLTP-Werte um mehr als das 2,1-Fache überschreitet; bei einem längeren Testlauf auf ganz normalen öffentlichen Straßen. Das darf dann jeder nachprüfen, der ein dafür zertifiziertes Gerät an den Auspuff anschließen kann - also auch Behörden, Autoklubs oder Verbraucherschützer. Bei einem Verstoß droht der Entzug der Zulassung für das Modell. Teststand-Optimierung, das geht dann nicht mehr.
Höhere Verbrauchswerte, höhere Steuern
Der ganz große Jubel über die neue Transparenz dürfte bei den Kunden allerdings nicht eintreten - sondern erst einmal ein Schock. Denn die Verbrauchswerte nach WLTP "werden auf jedem Fall höher als die bisherigen nach NEFZ ausfallen", sagt Projektleiter Dossing. Sein Trost: Real werden die Autos auch nicht mehr verbrauchen als ein paar Stunden vor dem Stichtag 1.September.
Allerdings werden sie mehr kosten - und zwar an Kfz-Steuer. Denn die wird nach dem CO2-Ausstoß bemessen. Das Bundesfinanzministerium hat erst vor kurzem nüchtern festgestellt: "Tarifänderungen am Steuersatz für CO2 sind nicht vorgesehen." Steigt der Verbrauch des gleichen Fahrzeugs nach Änderung der Norm um zehn, 20 oder mehr Prozent, dann muss der Besitzer um genau so viel mehr Kfz-Steuer bezahlen.
Der WLTP-Schock wird für den Steuerzahler zudem kaum ein Jahr darauf noch in die Verlängerung gehen: Denn dann werden auch die Verbräuche von Klimaanlagen mit in der Testnorm berücksichtigt. Das wird die Steuer noch einmal erhöhen. Einen Ausweg allerdings haben die Wolfsburger bereits in ihre Konfigurations-Computer für die Neukunden eingebaut. Wer etwa ein schweres Glasdach oder Anhängerkupplung möchte, dem schlägt die Software vor, mit Leichtlaufreifen und Dachspoiler das Zusatzgewicht wieder zu kompensieren. Das WLTP-Auto wird wohl so oder so kein Sparmodell.
TP