Von Benjamin Bessinger/SP-X
Er kennt die Strecke wie seine Westentasche und auch das Auto hat keiner so gut im Griff. Und trotzdem fühlt sich Romain Dumas heute wie ein Rookie, der zum ersten Mal am Steuer sitzt. Denn die Strecke, das ist die legendäre Nordschleife des Nürburgrings, die Jackie Stewart einst zur "Grünen Hölle" taufte. Und das Auto, das ist der VW ID R, mit dem Dumas im letzten Sommer die neue Bestzeit beim Sturm auf den Pikes Peak eingefahren und alle Verbrenner deklassiert hat.
Doch so vertraut dem vierfachen 24-Stunden-Sieger Auto und Strecke auch sein mögen, ist das hier heute eine Premiere. Denn zum ersten Mal startet der Franzose jetzt mit dem ID R in der Eifel und trainiert damit für eine weitere Bestleistung. In wenigen Wochen wollen die Niedersachsen mit ihrer fortschrittlichen Flunder die Bestzeit in der grünen Hölle knacken. Und wer glaubt, dass es dabei nur um die 6:45,90 Minuten geht, in denen der Brite Peter Dumbreck vor zwei Jahren den Nio EP9 als bis dato schnellstes Elektroauto durchs Ziel gebracht hat, der lutscht auch an Lithium-Ionen-Zellen. Zwar gilt das genau wie letztes Jahr am Pikes Peak als offizielle Zielvorgabe. Doch nachdem VW in Colorado eine neue absolute Bestzeit eingefahren hat, haben sie hier am Nürburgring ganz sicher nicht ohne Grund zwei weitere Zeiten auf die Plakatwand bei der Premiere geschrieben: die über Jahrzehnte unerreichten 6:11,13 Minuten von Stefan Bellof im Porsche 956 aus dem Jahr 1983 und die 5:19,11 Min, mit denen Timo Bernhard in einem Porsche 919 Hybrid eine neue Rekordzeit eingefahren hat.
Gestern die Rocky Mountains, heute die Eifel
Gestern die Rocky Mountains, heute die Eifel - was aussieht wie eine schlichte Wiederholung, ist allerdings eine komplett neue Mission. Und auch wenn beide Strecken mit knapp 20 Kilometern in Colorado und 20,832 Kilometern in der Eifel ähnlich lang sind und es hier wie dort endlose viele Kurven gibt, haben die beiden Strecken doch nicht viel gemein, klagt Teamchef Sven Smeets: "Die Anforderungen sind völlig unterschiedlich." Für den Fahrer und mehr noch für das Auto. Deshalb hat der ID R auch nur noch auf den ersten Blick etwas zu tun mit dem Rennwagen vom letzten Jahr. Wer genauer hinschaut, erkennt allerdings eine völlig neue Aerodynamik und auch der Antrieb wurde für die Eifel optimiert. Denn es geht hier vor allem um noch mehr Tempo. "Die Durchschnittsgeschwindigkeit wird bei 180 km/h liegen und in der Spitze werden wir 270 km/h erreichen", sagt Smets. Das ist deutlich mehr als am Pikes Peak, wo der ID R auf maximal 240 km/h kam.
Dafür hat VW nicht nur eine neue Übersetzung an die beiden unveränderten Elektromotoren mit zusammen 680 PS und 650 Newtonmeter geflanscht. Vor allem wurde die Aerodynamik überarbeitet. Während es am Pikes Peak vor allem um maximalen Antrieb ging, ist hier zur Stabilität eine maximale Effizienz gefragt. Der Heckflügel ist deshalb kleiner und flacher als bisher und wie in der Formel 1 gibt es ein Drag-Reduktion-System (DRS), bei dem eine Hydraulik auf Knopfdruck den Flügel so verstellt, dass der Luftwiderstand um 20 Prozent sinkt. In Rennen nutzt man das vor allem als eine Art Booster beim Überholen. VW dagegen nutzt die Technik, um Strom zu sparen, erläutert einer der Renningenieure. Denn auch wenn Romain Dumas nur eine Runde dreht, muss er mit der Energie in den nicht näher spezifizierten Lithium-Ionen-Akkus haushalten. Allzeit Vollgas ist nicht drin, erläutern die Strategen, selbst wenn sie natürlich größere Akkus hätten einbauen können. Aber jede Kilowattstunde mehr bedeutet auch mehr Gewicht und das wiederum bedeutet weniger Tempo, erläutern die Ingenieure eine schwierige Balance, die Dumas zwingt, seinen Bleifuß bisweilen ein wenig zu lupfen und dafür manchmal etwas fester zu Bremsen. Nicht umsonst soll rund 20 Prozent der Energie für die Rekordfahrt durch Rekuperation gewonnen werden.
Mit wie viel Speed durch welchen Streckenabschnitt, wann das DRS öffnen und wann den maximalen Abtrieb nutzen und wie das Zusammenspiel der beiden Motoren regeln – das alles müssen Dumas und sein Team und sein Team jetzt ausprobieren und die Zeit bis zum Rekordversuch im Mai drängt. Denn auch wenn das kleine Team diesmal schon auf große Erfahrungen aufbauen kann, ist die Mission trotzdem komplex und der Vorlauf kurz, sagt Smeets. Und ja, sie waren schon auf vier anderen Strecken zum Testen und Dumas sitzt täglich im Simulator. Doch die Nordschleife ist mit nichts zu vergleichen und eine Testfahrt im echten Leben durch nichts zu ersetzen. Kein Wunder also, dass Dumas in der improvisierten Boxengasse an der so genannten Industriezufahrt unter der Tribüne 13 ziemlich angespannt wirkt und das Pfeifen, das von seinen Lippen tönt, den Eindruck nicht wirklich ändern kann.
Probelauf mit allenfalls 60 Prozent
Umso glücklicher ist Teamchef Smeets, als Dumas kurz nach Tagesanbruch endlich auf die Strecke rollt und zur Jungfernfahrt auf der Nordschleife startet. Und noch viel erleichterter ist er, als sein wichtigster Mitarbeiter knappe zehn Minuten später wieder heil zurückkommt. "Wegfahren ist das eine, aber was zählt, ist dass der Wagen heil bleibt." Klar war das nur ein Probelauf mit allenfalls 60 Prozent, aber Dumas Anspannung ist gewichen, und das Lächeln auf seinen Lippen wirkt auf das ganze Team ansteckend.
Zwar rühmt der Rennfahrer bei jeder Gelegenheit brav die Teamleistung. Doch weiß er um seine privilegierte Situation bei dieser Mission. Sonst muss er seine Autos immer mit anderen Fahrern teilen, hier ist er der Alleindarsteller und alles dreht sich um ihn. "Was ich sage, wird gemacht und das Auto wird perfekt auf mich und meine Wünsche abgestimmt", gibt er den Glücksvogel.
In Fall des Nürburgrings stimmt das allerdings nur bedingt. Denn pünktlich zur Weltpremiere hat VW einen Simulator im Internet freigeschaltet, mit dem jeder den ID R durch die Grüne Hölle treiben kann. Natürlich hat auch Dumas die Simulation schon getestet - und gleich bei seiner ersten Runde schon mal den Nio-Rekord pulverisiert.