Digitalstrategie: Mut zur Innovation

Man kann dem Thema Digitalisierung einfach nicht ausweichen: egal, auf welcher Konferenz man ist, welches Fachmagazin man aufschlägt oder mit welchem "Experten" man spricht, sie scheint das A-Thema unserer Branche schlechthin zu sein. Andere Branchen wurden von der digitalen Welle früher erfasst als der Automobilhandel, der meinte, diesen Trend ignorieren zu können. Leider haben sich die seinerzeit aufgeführten Argumente fast alle als falsch herausgestellt. Bücher muss man eben doch nicht angefasst haben, auf Möbeln muss man nicht gesessen haben und Kleidungsstücke muss man nicht anprobiert haben, bevor man sie im Internet kauft. Daher gibt es auch keinen erkennbaren Grund anzunehmen, dass ein Interessent in einem Auto gesessen haben muss, bevor er es kauft, oder dass Werkstattleistungen nicht auch über das Internet von Kunden in wachsender Anzahl gekauft werden. Der Wettbewerb schläft nicht Das Ganze vollzieht sich natürlich nicht sofort und zu einhundert Prozent, aber wenn man genau hinschaut, so knabbern technologisch orientierte Wettbewerber bereits heute an diversen Ecken an den Marktanteilen des Automobilhandels. Wirkaufendeinauto.de nimmt z. B. jährlich ca. 150.000 GW in Zahlung, was ca. zwei Prozent der Besitzumschreibungen ausmacht. Ca. fünf Prozent der Kunden sollen 2015 einen Neuwagen über Internetplattformen gekauft haben und auch die Serviceportale erfreuen sich bei Kunden einer zunehmenden Akzeptanz. Hersteller: Vier große Themen Für das Verständnis und die richtige Einschätzung der Digitalisierung durch den Automobilhandel ist es aber auch wichtig, die Aktivitäten der Hersteller im Rahmen der Digitalisierung zu kennen. Diese werden von vier großen Themen beherrscht: direkter Neuwagenverkauf an Kunden über das Internet, Connected Car, Interaktion zwischen Fahrer und Fahrzeug sowie autonomes Fahren, wobei die ersten beiden besonders relevant für den Handel sind. Gleichzeitig stehen die Hersteller durch die Elektromobilität, das veränderte Nutzungsverhalten der Konsumenten ("Fahrzeug nutzen vs. besitzen") und durch den Auftritt neuer Wettbewerber (Apple, Google, Tesla etc.) unter Druck. Interessant ist vor diesem Hintergrund, dass nur eine Minderheit der Hersteller eine schlüssige Antwort auf die Digitalisierung des Käuferverhaltens zu haben scheint, in dem auch der Handel eine Rolle spielt. Audi geht z. B. als einer der wenigen Marken das Thema konsequent entlang der digital geprägten Customer Journey an und arbeitet intensiv an Modellen, die Online- und Offline-Kundenkontakte zwischen Hersteller und Handel verknüpfen sollen. Bei anderen Herstellern ist noch nicht einmal das Thema Connected Car in den Modellen angekommen. Die klassischen Automobilhersteller scheuen aber den Schritt in Richtung Öffnung und Kooperation. Sie verleiben sich lieber kreative Start-ups ein - VW z. B. kaufte 2015 das Start-up Sunhill Technologies für die Bezahlung von Parkplätzen - oder bauen akzeptanzerschwerende Hürden auf - z. B. müssen Apps in BMWs "BMW-approved" sein. Der gezielte Einsatz von offenen Öko-Systemen im Rahmen von partnerschaftlichen Kooperationen konnte zumindest noch nicht beobachtet werden. Die nahe Zukunft wird klären, ob die Hersteller selber die "Krone der Schöpfung" bleiben oder eine Rolle als Zulieferer für die Datenkönige Google & Co. übernehmen (müssen). Kleine Digital-Typologie Wichtig ist, dass der Automobilhandel und -service sich in diesem Umfeld nicht als Getriebener versteht, sondern selber aktiv wird. Dies beginnt zunächst damit, dass ein Autohaus sich selber klar positioniert, wobei es sich eine der folgenden vier Strategien zu eigen machen kann: - Digitale Verweigerer haben keine eigenen (nennenswerten) digitalen Initiativen. Sie sind erkennbar an veralteten Webseiten ohne aktuellen Inhalt und Umsatzorientierung sowie an einem unkontrollierten Wildwuchs von Social-Media-Präsenzen und Bewertungen im Internet (Web-Image!). Im Back-Office-Bereich tun sie nur das absolut Notwendige, bei markengebundenen Betrieben meist nur das vom Hersteller Vorgegebene. Digitalen Initiativen der Hersteller folgen diese Autohäuser oft nur unter Zwang. - Digitale Follower verfügen über keine Digitalstrategie und weisen nur rudimentäre digitale Initiativen auf. Diese sind meist unzusammenhängend, z. B. erkennbar an Facebook-Seiten, wo der letzte Post mehr als sechs Monate alt ist. Initiativen ihrer Hersteller folgen sie meist nur mit erheblicher Verspätung- Digitale Selektierer weisen punktuell durchdachte und zielführende digital geprägte Initiativen auf, haben diese aber noch nicht in einer ganzheitlichen Digitalstrategie zusammengeführt. Auf Herstellerinitiativen springen sie i. d. R. zeitnah auf. - Digitale Innovatoren haben einen konsequenten Fokus auf digitale Umsatz- und Kundenkontaktgenerierung. Sie denken systematisch entlang der digitalen Customer Journey und werden selber im Rahmen einer durchgängigen Digitalstrategie aktiv. Sie weisen auch ein erweitertes Selbstverständnis auf, indem sie in neue, digital geprägte Geschäftsfelder der Mobilität vorstoßen (z. B. Car-Sharing). Bei den Herstellerinitiativen sind sie regelmäßig Pilotpartner. Abbildung 1 zeigt den zu erwartenden Gewinn bzw. Verlust an direkten Kundenkontakten in den nächsten 5 bzw. 10 Jahren, je nach eingeschlagener Strategie, was auf der Grundlage der Entwicklungen in anderen Branchen und diverser Annahmen abgeschätzt wurde. Was kann der Handel tun? Mit der Entwicklung und Umsetzung einer eigenen Digitalstrategie bieten sich dem Handel große Chancen, wobei er aus einem Fundus an technischen und nichttechnischen Möglichkeiten schöpfen kann. Bei der Auswahl der geeigneten Instrumente sollten die folgenden Aspekte berücksichtig werden: - Customer Journey und Datenorientierung als Leitgedanken Marktnahe Aktivitäten sind konsequent auf die Customer Journey auszurichten, jeder Berührungspunkt mit dem Kunden sollte systematisch analysiert und, wenn sinnvoll, digital angereichert werden, inklusive einem geschickten Wechselspiel zwischen online und offline. Gleichzeitig kommt den Daten über die Kunden eine herausgehobene Bedeutung zu, da sie "das Öl des 21. Jahrhunderts" sind. Konsequentes Sammeln von Kundendaten, deren Optimierung, Anreicherung, Analyse und Nutzung sind die zentralen Aspekte. - Nicht nur Markt und Kunde berücksichtigen Die Digitalstrategie ist momentan von der Kundenseite getrieben (Stichworte: Multi-Channel-Marketing und -Vertrieb). Dies bedeutet aber nicht, dass die Digitalisierung nicht auch im Back-Office-Bereich enorme Potenziale bietet. Hierzu gehören z. B. elektronische Archivierungssysteme, moderne Kommunikationsformen wie Lync, Skype etc. und ein integriertes, offenes und modular aufgebautes Dealer Management System als zentrale Datendrehscheibe und damit fast wesentlichster Bestandteil der Digitalstrategie. - Nicht gegen, sondern mit dem Hersteller, aber ... Es ist immer sinnvoll, eigene digitale Aktivitäten mit dem Hersteller gemeinsam zu entwickeln bzw. seine eigenen Aktivitäten an denen der Hersteller auszurichten, da man nur gemeinsam alle Stationen der Customer Journey effektiv abdecken kann. Dabei sollte der Handel aber nicht der Versuchung unterliegen, zu lange auf den Hersteller zu warten, da er sonst Gefahr läuft, von dem Thema überholt zu werden. Auch ist darauf zu achten, dass im Rahmen dieser Zusammenarbeit die Interessen des Handels (insbesondere Hoheit über Kundenkontakte!) nicht auf der Strecke bleiben. - Auf vorhandene Chancen setzen Chancen, auf die der Handel setzen kann, bieten sich zuhauf. Sie beginnen bei einem offensiven und digital geprägten Einsatz von Internet-Plattformen (Facebook, Google, Börsen etc.) oder Technologien (z. B. OBD-Dongle mit zugehörigem Geschäftsmodell). Auch der Fokus auf die weniger werdenden Kundenkontakte im Autohaus (z. B. Probefahrt und Auslieferung) sowie das permanente Ausspielen der eigenen Regionalität auf allen Kanälen gehören dazu, da Letztere von Internet-Wettbewerbern nicht kopiert werden können. - Der Autohandel als offener Marktplatz und erweiterter Dienstleister Analog zu den erfolgreichen digitalen Playern wie Google, Apple etc. gibt es keinen Grund, warum nicht auch der Autohandel in seinem Selbstverständnis deutlich über das Verkaufen und Reparieren von Fahrzeugen hinausgehen kann. Das bedeutet, dass er beginnen sollte, sich als Zugangspunkt zu Menschen mit automobilen Bedürfnissen zu verstehen und nicht nur als Verkäufer und Reparierer von Fahrzeugen. Gleichzeitig sollte er offene Strukturen schaffen und anbieten, so dass andere daran partizipieren können (Stichwort "Öko-System", s. o.). Beispielsweise kann der eigene Vfw- und Vermieterbestand im Rahmen von Car-Sharing-Konzepten der eigenen Region angeboten werden, um zusätzliche Kundenkontakte zu generieren. Dienstleister, die die technologischen Grundlagen dafür anbieten, sind ausreichend vorhanden. Umsetzung der eigenen Digitalstrategie Die Definition und Umsetzung der eigenen Digitalstrategie betrifft zunächst die Identifizierung von konkret durchzuführenden und zur eigenen Strategie passenden Aktivitäten. Hierzu haben wir ein Portfolio von über 40 konkreten Maßnahmen entwickelt, aus denen in Abbildung 2 einige beispielhaft genannt werden. Hieraus werden die passenden Maßnahmen ausgewählt und im Rahmen eines Projektplanes abgearbeitet. Ein weiterer wesentlicher Faktor für die erfolgreiche Umsetzung der identifizierten Maßnahmen ist das sogenannte digitale Transformationsmanagement, also die Kunst, die digitale Welle mit dem eigenen Unternehmen erfolgreich zu reiten. Dies betrifft die eigene Unternehmenskultur genauso wie Prozesse und Strukturen. Diese Erfolgsfaktoren betreffen die eigene Innovationsfähigkeit sowie Führung und Organisation und wie ein roter Faden immer wieder die Einbindung und Motivation der eigenen Mannschaft für das Thema. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass die Digitalisierung ein gesellschaftliches Thema ist und damit alle Aufgabenbereiche des Autohauses und damit auch alle Mitarbeiter betrifft, vom Verkäufer (z. B. Lead-Generierung über Facebook und Xing), über den Kundendienstberater (z. B. digitale Dialogannahme) bis in naher Zukunft auch die Buchhaltung (z. B. über neue Bezahlformen wie PayPal). Auch die EDV muss passen Für eine erfolgreiche Umsetzung müssen aber auch die eigenen EDV-Strukturen die Digitalstrategie des Autohauses wirksam unterstützen können. EDV muss damit nicht nur finanziell deutlich aufgewertet, sondern zur Chefsache erklärt werden. Veraltete Dealer Management Systeme mit monolithischen Architekturen und Datenmodellen sowie Technologien aus dem letzten Jahrhundert sind genauso wenig förderlich wie das Verständnis der eigenen EDV als lästiges Übel. Letztlich ist auch die Digitalisierung unserer Branche damit ein Führungs- und Motivationsthema, in dem technologische Aspekte natürlich stärker im Fokus stehen. Die eigentliche Herausforderung des Handels ist aber nicht, selber zum Softwarehaus werden zu müssen, sondern gezielt aus den sich bietenden Möglichkeiten auszuwählen. Auf der Grundlage einer klaren eigenen Strategie sind die Konsequenz in der Umsetzung und die Motivation der eigenen Mannschaft die wesentlichen Erfolgsfaktoren. Möglichkeiten und Chancen, Dinge zu bewegen, gibt es zur Genüge. Ein wesentlicher Vorteil ist, dass die Branche noch vergleichsweise am Anfang dieser Entwicklung steht und man sich durch eigene Aktivitäten (noch) Wettbewerbsvorteile und Differenzierungsmerkmale sichern kann. Dr. Jörg von Steinaecker ist Unternehmensberater und Inhaber des Beratungsunternehmens Steinaecker Consulting, das sich auf die Themen Aftersales, CRM, Social-Media-Marketing, IT sowie Bau- und Standortfragen des Autohandels spezialisiert hat. Beratungsschwerpunkte bilden die Erarbeitung von Strategien und Maßnahmen für Automobilhändler und ihre verbundenen Unternehmen sowie deren Umsetzung und die Sicherstellung ihres nachhaltigen Nutzens. Kurzfassung Eine klare digitale Strategie kann den entscheidenden Wettbewerbsvorteil schaffen. Um sie umzusetzen, sollten zunächst die Strukturen des eigenen Unternehmens genau auf den Prüfstand gestellt werden. Denn: Digitalisierung ist ein Führungs- und Motivationsthema.

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