Die Offensive neuer oder bisher in Europa nicht vertretener Marken ist in der Geschichte der Autoindustrie beispiellos. Seit der Markteinführung von Tesla 2014 in Deutschland werden bis 2025 mehr als 20 neue Marken versuchen ein Stück aus dem Neuwagenkuchen zu erobern. Da stellt sich die Frage: Mit welchen markt- und vertriebsseitigen Konzepten versuchen die neuen Marken erfolgreich zu sein?
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Es ist auffällig, aber nicht überraschend, dass die meisten neuen Marken mit mittelgroßen vollelektrischen SUV ihr Glück versuchen – und dabei immer größere Reichweiten in Aussicht stellen. Die Konzepte sind allesamt sehr ähnlich, die Karosseriedesigns nahezu austauschbar. Die etablierten Anbieter schaffen die optische Differenzierung durch das Logo und Elemente des Markengesichts.
Vertriebsseitig planen nahezu alle neuen Anbieter den kostenmäßig günstigsten Weg des Online-Verkaufs. Das macht sich im Business-Case für die Investoren gut: modern, zukunftsorientiert und kostengünstig. Allerdings merken früher oder später alle Newcomer im Automobilgeschäft, dass man zu Anfang neben einem wettbewerbsfähigen Produkt mindestens noch Bekanntheit (Awareness oder Aufmerksamkeit) sowie die physische Präsenz braucht.
Der Konsument kauft (oder mietet) das nach einer Immobilie teuerste Produkt seiner Lebensgestaltung normalerweise nur, wenn er die Marke kennt und ihr vertraut. In einer Konsumgesellschaft mit vielen Tausenden Konsumgütermarken und mehreren Dutzend Automobilmarken braucht der Aufbau eines Bekanntheitsgrades Zeit und Geld. Offenkundig ist, dass zu einer erfolgreichen Markteinführung nur Websites der Hersteller sowie veröffentlichte Autotests nicht ausreichen werden. Um für Bekanntheitsgrad und Präsenz im Markt zu sorgen, nutzen einige Newcomer die Mietwagengesellschaften.
Lynk & Co München
BildergalerieNur wenige Konsumenten kaufen außerdem ein neues Auto, ohne es je real gesehen zu haben. Der Konfigurator auf der Website ist da nicht ausreichend. Der Wunsch nach physischer Autobesichtigung und anschließender Probefahrt gilt nach wie vor und auch weltweit. Das Problem haben die meisten erkannt und City-Schauräume und Probefahrtzentren geplant oder etabliert. Allerdings sind die meisten Märkte dezentralisiert und auf viele Städte und Gemeinden verteilt; ein City-Schauraum in Berlin, Hamburg und München ist schon einmal ein guter Anfang, aber eine volumenmäßige Marktdurchdringung erreicht man so nicht. Dazu braucht man schon ein größeres Netz.
Eine mehr oder weniger umfangreiche Handels- oder Niederlassungsorganisation aufzubauen, und das in jedem relevanten Markt, dürfte allerdings für die meisten Newcomer physisch, zeitlich und finanziell ausgeschlossen sein. Ob ein Verkauf über eine Elektro-Handelskette funktioniert, nämlich Aiways über die Elektronikkette Euronics, wird man sehen. BYD schließt einen Online-Vertrieb aus, kooperiert mit der schwedischen Autohandelsgruppe Hedin als Importeur und plant mit sieben führenden Händlergruppen in Deutschland ein Händlernetz.
Die häufig kommunizierte und nicht nachprüfbare Anzahl von Online-Vorbestellungen – die natürlich auch wieder storniert werden können – soll allerdings bewusst das falsche Bild vermitteln, dass der Vertrieb online hier ausreicht. Es ist erkannt, dass flexible Auto-Abos helfen können, Kunden zu gewinnen: Der Kunde zahlt einen monatlichen Betrag, der bis auf Benzin alle Kosten abdeckt, und muss sich nicht lange binden. Aber das hat seinen Preis und entweder der Anbieter oder der Kunde muss für diese Flexibilität bezahlen.
Schließlich muss der auch bei vollelektrischen Fahrzeugen notwendige Service organisiert werden. Ein flächendeckender mobiler Service oder Hol-und-Bringdienst muss funktionieren. Im Vorteil ist, wer wie bei Geely eine funktionsfähige Handelsorganisation im Hintergrund hat. Polestar, Lynk & Co. sowie weitere potenzielle Marken von Geely können auf die Volvo-Organisation zurückgreifen. Great Wall Motor Company (GWM) nutzt die Service-Organisation der Emil-Frey-Gruppe. Aiways setzt auf eine Kooperation mit der Werkstattkette ATU.
Das einfache Konzept "vollelektrischer SUV sowie Online-Verkauf" wird also nicht ausreichen. Natürlich benötigt ein Newcomer zunächst einmal ein wettbewerbsfähiges neues Produkt. Aber wie der Management-Guru Peter Drucker sagte, ein Geschäft benötigt "Innovation and Brand", also "Produkt und Marke". Die Bedeutung von Vertrieb und Marketing und die benötigten personellen und finanziellen Ressourcen werden von Newcomern, hinter denen meist vor allem Ingenieure stehen, sträflich unterschätzt. Ein Auto, auch ein Elektroauto, verkauft sich nicht von allein, schon gar nicht nur mit Online-Klick. Und erst recht nicht von einer unbekannten Marke. Einen Bekanntheitsgrad und dann Vertrauen aufzubauen, ist eine teure und langwierige Aufgabe. Und den Vertrieb auf den Kunden selbst outzusourcen, funktioniert so nicht.
Fazit: Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Transformation der Automobile und der Automobilindustrie in Richtung der Elektromobilität und Digitalisierung, der reduzierte Servicebedarf der BEV und der zunehmend akzeptierte Online-Vertrieb den neuen Marken prinzipiell einen vereinfachten Eintritt in den europäischen Markt eröffnet, für den die bisherigen Barrieren mit Verbrennerfahrzeugen zu hoch waren. Allerdings müssen sich die neuen Marken ohne Bekanntheitsgrad und ohne physische Präsenz gegen die großen etablierten Hersteller mit teils weltbekannten Marken und etablierten Handels- und Serviceorganisationen erst einmal durchsetzen.
Prof. Dr. Thomas Heiland