Eine Stoßbarriere mit 60 km/h in die Seite einer Mercedes C-Klasse zu schießen, gilt als extremer Belastungstest für eine Karosseriestruktur. Was exakt während eines solchen Crashs insbesondere mit der Fahrgastzelle und den stoßzugewandt im Fahrzeug sitzenden Dummys passiert, kann Mercedes jetzt dank neuer Röntgentechnologie komplett entschlüsseln.
Gemeinsamer Vorstoß bei der Röntgentechnik
Dafür hat der schwäbische Automobilhersteller zusammen mit dem Fraunhofer-Institut für Kurzzeitdynamik, dem Ernst-Mach-Institut (EMI) in Freiburg, nicht nur den nach eigenen Angaben "weltweit ersten Röntgencrash" mit einem realen Pkw durchgeführt.
Der Bereich Fahrzeugsicherheit von Mercedes-Benz forscht bereits seit mehreren Jahren zusammen mit dem EMI am Einsatz von Röntgentechnologie bei Crashversuchen. Entscheidend für den Durchbruch sei es gewesen, einen Linearbeschleuniger mit 1-kHz-Technologie als Strahlenquelle einzusetzen. Das Gerät gilt als weitaus leistungsfähiger als die vorher versuchsweise verwendeten Röntgenblitze: Die Photonenenergie des Linearbeschleunigers beträgt bis zu neun Megaelektronenvolt.
1.000 Bilder pro Sekunde
"Damit lassen sich alle im Fahrzeugbau üblichen Materialien durchleuchten", so Mercedes-Benz. Die Dauer des Röntgenpulses beträgt dabei nur wenige Mikrosekunden. Das erlaube es, Deformationsprozesse im Crashtest ohne Bewegungsunschärfe aufzuzeichnen. Zudem erzeugt der Linearbeschleuniger einen kontinuierlichen Strom dieser Röntgenpulse. "Dadurch sind bis zu 1.000 Bilder pro Sekunde möglich. Das sind etwa 1.000 Mal so viele wie bei herkömmlichen Röntgenverfahren", teilt der Autobauer mit.
Während des Crashtests durchleuchten die Strahlen von oben die Karosserie und die Dummys. Ein Röntgen-Detektor befindet sich unter dem Versuchsfahrzeug. Er dient beim Röntgensystem als digitaler Bildempfänger: Trifft die Strahlung auf den Detektor, wird ein elektrisches Signal erzeugt. Wie intensiv dieses ausfällt, hängt davon ab, wie stark die Strahlung zuvor von der Fahrzeug- und Dummystruktur absorbiert wurde. Das beeinflusst den später sichtbaren Grauwert – analog der Röntgenkontrolle des Gepäcks am Flughafen oder bei entsprechenden Aufnahmen im medizinischen Bereich.
Detaillierter Verletzungs- und Deformationsverlauf
In der eigentlichen Aufprallzeit von einer Zehntelsekunde schießt das Röntgensystem etwa 100 Standbilder. Zu einem Video zusammengefügt, geben sie hochspannende Einblicke, was sich während des Crashs im Innern sicherheitsrelevanter Bauteile und im Körper des Dummys abspielt. So lässt sich in allen Einzelheiten beobachten, wie der Thorax des Dummys eingedrückt wird oder sich ein Bauteil verformt. Wichtig auf dem Weg von der Forschung zum industriellen Einsatz: Der Röntgencrash beeinflusst keine anderen Analysetools. Auch die Innenraumkameras des Crashtestfahrzeugs zeichnen ungestört auf.
Umfassender Schutz vor Röntgenstrahlung
Für den Röntgencrash haben die Fachleute des EMI ein umfangreiches Strahlenschutzkonzept erstellt. Mit Dosimetern wird überwacht, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter keiner Strahlung ausgesetzt sind. Die Regierungsbehörde hat den Betrieb der Anlage nach den gesetzlichen Vorgaben genehmigt. Zu den aufwendigen physischen Schutzmaßnahmen zählen eine zusätzliche, 40 Zentimeter starke Betonwand rings um das Gebäude sowie eine rund 45 Tonnen schwere Strahlenschutztüre.