Ein deutlich gestiegenes Interesse am "Green Repair"-Konzept können die ClaimParts-Verantwortlichen vermelden. Im Exklusiv-Interview skizzieren sie die nötigen Rahmenbedingungen, damit Autofahrer, Reparaturbranche, Versicherungswirtschaft und professionelle Verwerter gleichermaßen profitieren.
Die intelligente Verknüpfung von Ökologie und Ökonomie ist einer der Megatrends der deutschen Wirtschaft. Ob Photovoltaik auf Werkstattdächern, die EcoRepair-Initiative des BVdP oder Nachhaltigkeitsbeauftragte bei allen namhaften Versicherungsgesellschaften – grün ist in. Kein Wunder, dass auch die Reparatur mit zeitwertgerechten Ersatzteilen, vor Jahrzehnten intensiv diskutiert und ebenso schnell wieder verworfen, aktuell erneut in den Fokus der Branche rückt.
Argumente en masse
Dass hinter diesem Konzept mehr steckt als eine Beruhigung des eigenen Öko-Gewissens, wird mit Blick auf mögliche Vorteile schnell klar: Den seit Jahren steigenden Ersatzteilpreisen könnte ebenso aktiv entgegengewirkt werden wie langen Lieferzeiten, die die Schadenkosten in ungeahnte Höhen treiben. Reparaturbetriebe würden ihre Werkstattauslastung steigern, Versicherungen weniger für Ersatzfahrzeuge und Nutzungsausfall bezahlen, die Kundenbindung für Autos älteren Semesters wird durch attraktivere Preisgestaltung erhöht, Versicherungsnehmer profitieren von niedrigeren Prämien.
Was zunächst nach der Quadratur des Kreises klingt, funktioniert in anderen Märkten bereits und wäre auch in Deutschland durchaus machbar, so net.casion-Geschäftsführer Michael Kauß und ClaimParts Produktmanager Oliver Hallstein. Notwendig ist dafür allerdings ein gemeinsames Handeln der Schlüsselparteien im Reparaturgeschäft, denn nur so lässt sich nachhaltiges Schadenmanagement hierzulande erfolgreich etablieren.
Interesse von allen Seiten
AH: Herr Kauß, seit unserem letzten Gespräch in Sachen ClaimParts sind nur wenige Wochen vergangen. Was hat sich inzwischen getan?
M. Kauß: Ohne jede Übertreibung eine ganze Menge. Die Gebrauchtteilreparatur lässt sich nicht mehr wegdiskutieren, das zeigt uns die positive Resonanz bei Kundenterminen und Veranstaltungen. Das Interesse verschiedenster Marktteilnehmer über die Versicherungswirtschaft hinaus ist ebenfalls groß, da Kostendruck und Erwartungshaltung ringsum steigen. Die verschiedenen strategischen Herangehensweisen machen das Thema unglaublich herausfordernd, aber auch wahnsinnig spannend.
Herr Hallstein, wo liegen aus Ihrer Sicht die Gründe für diese Nachfrage?
O. Hallstein: Im steigenden Bedürfnis, nachhaltige Geschäftsideen umzusetzen – sei es seitens der Politik und Gesellschaft oder mit Blick auf die eigene Ökobilanz. Die Versicherungswirtschaft mit ihrer Kernkompetenz der Risikoabdeckung tut sich schwer damit, wirklich grüne Produkte auf den Markt zu bringen. Bepflanzte Gebäudedächer, E-Bikes als Firmenfahrzeug und die Erhöhung der Recyclingquote im Unternehmen sind allesamt Schritte in die richtige Richtung. Leider hat der Versicherungsnehmer davon nichts und genau dort setzen wir an. Der betuchte Oberklasse-Fahrer ist vielleicht nicht unsere Kernzielgruppe, aber die junge, ebenso umwelt- wie kostenbewusste Kundenschicht wächst – das beweisen hauseigene Umfragen, nach denen sich beispielsweise in Berlin über 50 Prozent der Autofahrer im Alter zwischen 20 bis 35 Jahren eine zeitwertgerechte, nachhaltige Instandsetzung zu fairen Preisen wünschen.
M. Kauß: Entscheidend ist zu betonen, dass es sich bei der Gebrauchtteilreparatur nicht darum dreht, die Kfz-Versicherungen beim Drücken ihrer Schadenkosten zu unterstützen. Das ist jedoch einer von vielen positiven Effekten. Nicht umsonst sind wir auch mit den Branchenverbänden der Instandsetzungsbetriebe und sogar Automobilherstellern in hochinteressanten Gesprächen – richtig angepackt, bietet zeitwertgerechte Reparatur enorme Vorteile für alle Beteiligten. Selbst Prüfdienstleister könnten Gebrauchtteile in der Dunkelverarbeitung zur Belegprüfung heranziehen.
Umdenken erforderlich
Welche Voraussetzungen müssen erfüllt werden, damit das ClaimParts-Konzept nach einer langen Vorlaufphase richtig an Fahrt gewinnen kann?
O. Hallstein: Um den deutschen Markt nach unseren Standards in Sachen Geschwindigkeit, Teileverfügbarkeit und Qualität abdecken zu können, brauchen wir fünf Millionen Ersatzteile im System. Um diese Zahl zu erreichen, muss die Ausfuhr von Totalschadenfahrzeugen beschränkt werden, um dem Gebrauchtteilesektor ein kontinuierliches Wachstum zu ermöglichen.
Professionelle, zertifizierte Demontagebetriebe werden zu einem der wichtigsten Player im Schadenmanagement aufsteigen. Ganz allgemein braucht es zudem Imagepflege: Der Einsatz von
recycelten oder gebrauchten Ersatzteilen sollte gefördert werden – in Frankreich ist das Angebot einer alternativen Kalkulation mit Eco-Komponenten verpflichtend und wird rege genutzt. In der höchsten Ausbaustufe wird eine intelligente, europaweite Vernetzung der Demontagebetriebe notwendig sein, um die Teileverfügbarkeit zu gewährleisten. Dafür braucht es natürlich auch konsolidierte digitale Marktplätze, die entsprechend leistungsfähig sind.
M. Kauß: Nur wenn ein System für alle Beteiligten einfach und schnell funktioniert, wird es auch genutzt. Sobald die Werkstatt einen Schaden kalkuliert, muss das Programm eine mögliche Gebrauchtteilereparatur als Alternative anzeigen und den Preisvorteil in Euro und Prozent ausweisen. Bei einer Bestellung aus verschiedenen Quellen gibt es nur eine zentrale Rechnung, die angezeigte Verfügbarkeit in der versprochenen Qualität wird eingehalten. Ist Nacharbeit notwendig, wird diese dokumentiert und ausgewiesen. All das gewährleisten wir mit ClaimParts bereits.
Aber auch den Verbrauchern muss klar werden, dass das Bild des klassischen Schrottplatzes à la bekannter TV-Soaps komplett überholt ist. Demontagebetriebe arbeiten mit 3D-Fotografie, Barcode-Systemen und ausgeklügelter Logistik auf höchstem Niveau – es sucht schon längst niemand mehr den passenden Kotflügel in einem Haufen Altmetall. Wir führen inzwischen regelmäßig Termine mit der Versicherungswirtschaft bei professionellen Verwertern durch, die mit ihren Hightech-Betrieben immer wieder für Erstaunen sorgen.
"Wir stehen in den Startlöchern"
Das klingt nach einer Menge Überzeugungsarbeit. Wann wird die Gebrauchtteilreparatur auch in der Bundesrepublik etabliert sein?
M. Kauß: Dass uns das Thema ClaimParts im Hause net.casion bereits seit Längerem umtreibt, ist korrekt. Allerdings wäre mit einem Schnellschuss, der wegen mangelnder Teileverfügbarkeit, unzureichender Qualität oder zu geringer Plattformkapazitäten zum Scheitern verurteilt ist und dieses bedeutende Projekt schlimmstenfalls um Jahre zurückwirft, niemandem gedient. Aus diesem Grund haben wir die Zeit genutzt, um die Anforderungen aller Beteiligten kennenzulernen, mögliche Schwierigkeiten schon vorab aus dem Weg zu räumen und Bedenken mit Zahlen und Argumenten entgegentreten zu können. Das Ergebnis dieses Engagements ist das bereits beschriebene Interesse wichtiger Marktplayer aus allen Bereichen, verschiedene Testfelder und die unmittelbar bevorstehende Gründung der ClaimParts GmbH noch dieses Jahr. Unser erklärtes Ziel ist es, ab 2023 richtig durchzustarten!
Herr Kauß, Herr Hallstein, herzlichen Dank für dieses Gespräch.
Enormes Potential
Welche ökologischen Chancen die Reparatur mit Gebrauchtteilen bietet, unterstreicht eine – bewusst konservativ gehaltene – Überschlagsrechnung. Die Zahlen gehen davon aus, dass eine Kfz-Versicherung binnen eines Jahres 100.000 Unfallschäden reguliert, bei denen der Einsatz von ClaimParts-Komponenten möglich und sinnvoll ist. Bei durchschnittlich vier gebrauchten Ersatzteilen pro Schaden mit einem angenommenen Gewicht von vier Kilogramm je Teil ist eine Reduktion des CO2-Abdrucks um zwei Kilogramm je Kilogramm Stahl möglich – per anno würde dies – verglichen mit dem Einsatz von 400.000 Neuteilen – die Einsparung von 3.200 Tonnen Kohlendioxid bedeuten. Die Ökobilanz gebrauchter Ersatzteile liegt damit nur knapp hinter der Instandsetzung der bestehenden Karosserie und schlägt Recycling-Komponenten und Neuteile um Längen.