Von Wolfram Nickel/SP-X
Der Genfer Autosalon (8.-18. März) hat eine lange Tradition. Vor einem halben Jahrhundert war der Besucheransturm besonders groß: Zeitweise kamen mehr Menschen als die Messepaläste am Genfer See fassen konnten. Bereits das Werbeplakat des Salons propagierte ein neues Zeitalter, zeigte doch eine freie Autobahn den schnellsten Weg in eine himmelblaue Autowelt jenseits zementierter Konventionen.
Die automobile Vollversammlung in der UNO-Metropole vereinte 1968 erstmals mehr als 100 Marken aus vier Kontinenten, darunter die staatstragenden russischen Tschaika und Zil, einen chinesische Hongqi ("Rote Fahne"), vor allem aber einen Tsunami japanischer Modelle, die von der neutralen Schweiz ins restliche Europa vordrangen. Friedlich, versteht sich. Ungeachtet der Vorboten eines politisch revolutionären 68er Frühlings präsentierten sich die Protestgefährte der Studentenbewegung harmonisch neben schnellen Sportlern in Schreifarben, Kunststoff-Flitzern für die aufkommende Freizeitgesellschaft und gleich mehreren Revoluzzern mit Rotationskolbentriebwerken. Brav war verpönt, weshalb der VW 1300 als psychedelisch lackierter "Privat-Käfer" vorfuhr und Rolls-Royce seine 100.000-Mark-Luxusmobile erstmals durch Messehostessen "an den Mann bringen wollte", wie es ein Nachrichtensender nannte.
Auffallen um fast jeden Preis: Barbusige Damen auf Motorhauben wie bei der British Motor Show waren am calvinistischen Lac Leman zwar nicht erlaubt. Dafür kreischten nun hochtourige Honda-Motoren ähnlich laut wie Formel-1-Triebwerke, Toyota-Modelle sprangen im Umfeld des Salons durch Papiermauern mit der japanischen Flagge und Farben in Popart schmückten Messehighlights wie BMW 2002 oder NSU Ro 80. Die Wankel-Limousine hatte sich schon auf der Frankfurter IAA vorgestellt, wurde jedoch in der Schweiz erneut als Superstar gefeiert. Was auch einer japanischen Rotary-Armada zu verdanken war, mit der nun Mazda nach Europa vordrang. Kreiskolbenmotoren schien die Zukunft zu gehören – ein Irrglaube, wie sich bei der ersten Ölkrise zeigte. Im März 1968 aber beeindruckte der spektakulär designte Sportwagen Mazda Cosmo Sport 110 S mit dem ersten Wankel mit Vierfach-Vergaser, während die Modelle Mazda R-100 und RX-87 futuristische Wankel-Technik in italienisch inspiriertes Design verpackten.
Weitere Überraschungen im Gepäck
Die Ateliers der italienischen Alta Moda und der französischen Haut Couture hatten für den Schweizer Catwalk noch weitere Überraschungen im Gepäck. Allen voran Bertone, dessen begnadetes Nachwuchstalent Marcello Gandini einen Gran Turismo vorstellte, der als Lamborghini Espada Geschichte schrieb. Nie zuvor hatte es einen schnelleren und schärferen V12-Viersitzer gegeben. Damit nicht genug enthüllte Lamborghini zeitgleich den neuen Zwölfzylinder Islero aus der Carrozzeria Marazzi. Fiat-Designer Dante Giacosa wiederum erfand die moderne Kompaktklasse: Sein bereits vier Jahre alter Autobianchi Primula zeigte sich in neuer Frühlingsfrische mit Heckklappe, um so gegen junge Konkurrenten wie den Simca 1100 zu punkten. Giovanni Michelotti wiederum beeindruckte mit feinen Formen für den niederländischen Daf 55, der die revolutionäre Riemenautomatik in familientaugliche Größe brachte.
Der viersitzige Monteverdi High Speed 375 zeigte, dass exklusive Formen und Fahrzeuge ab sofort auch "Made in Switzerland" sein konnten. Opel legte deshalb speziell für die Schweiz den Kadett als anspruchsvolleren Ascona auf und zeigte mit dem Commodore Voyage, wie ein exklusiver Lifestyle-Kombi aussehen könnte. Italiens Altmeister Pininfarina wiederum freute sich über die jüngsten Erfolge seiner Kooperation mit dem Haus Peugeot. So hatte er für die kompakte Baureihe 204 einen Entwurf gezeichnet, der bei Peugeot finalisiert worden war und nun vollendete Formen für den damals kleinsten Diesel der Welt bot. Dieser knausrige 1,3-Liter-Vierzylinder nahm einen rußigen Kompaktklasse-Trend vorweg, der ein Jahrzehnt später vom VW Golf aufgegriffen wurde.
Voller Spannung erwartet wurde Anfang 1968 der erste viertürige Volkswagen, mit dem Wolfsburg in die gehobene Mittelklasse vorstoßen wollte. Bis die Heckmotorlimousine unter dem Modellcode 411 als "größter Käfer aller Zeiten" Schlagzeilen machte, wurde es jedoch Herbst. Dafür traf der Fullsize-VW dann auf den Audi 100, den die Ingolstädter VW-Tochtermarke heimlich entgegen einer Konzernweisung entwickelt hatte. Zuvor jedoch debütierte in Genf der Audi 60, das preiswerte Volumenmodell im Zeichen der Ringe. Typisch Audi fuhr der Typ 60 mit Vorderradantrieb vor und leistete so nach Meinung der Medien einen wichtigen Beitrag zur aktiven Sicherheit auf den Straßen – und er passte perfekt auf den Genfer "Salon der Sicherheit".
Hohe Anzahl an Verkehrstoten
Tatsächlich trafen sich fast alle Topmanager der Autoindustrie auf Schweizer Boden, um einheitliche internationale Sicherheitsvorschriften zu fordern. Wie wichtig das damals war, verdeutlichte die unfassbar hohe Zahl von fast 20.000 Verkehrstoten im Jahr allein auf deutschen Straßen. Noch ein weiteres globales Reglement wurde 1968 durch die Industrievertreter angeregt: Die Reinigung der Autoabgase. Wenig später hatten die Hersteller ihr Postulat aber schon vergessen, wie der Widerstand gegen europäische Emissionsvorschriften bewies.
Während in Berlin die Kommunarden Rainer Langhans und Fritz Teufel vor Gericht standen, zeigten sich in Genf frische Protest-Vehikel für alle nicht angepassten Studenten und Intellektuellen. Der Citroen 2 CV feierte seinen 20. Geburtstag mit dem feiner ausstaffierten Schwestermodell Dyane und mit dem puristischen Méhari mit Plastikkarosserie. Als offener Strandwagen trat der Méhari gegen die VW Buggies an – und den von Renault eilig nachgelegten R4 Plein Air. Bürgerlich-bieder gab sich hingegen der Escort, Ford Europas erster Kleinwagen mit kuriosem Kühlergrill in Hundeknochenform. Unter der Haube loderte beim Escort aber das Feuer der Revolution, zumindest in starker Twin-Cam-Spezifikation, die sich auf Rallye-Pisten vorzugsweise mit Porsche 911 duellierte.
Überhaupt war Tempo damals wichtig wie noch nie. "Die Welt ist voller Geschwindigkeitsbegrenzungen. Warum wird der Porsche 911 dann jetzt noch schneller?" fragten die Zuffenhausener Werbetexter. "Der 911 S … ist schnell, wo es lebenswichtig ist: Beim Überholen", lautete die Antwort. Tatsächlich beschäftigten Beschleunigungswerte erstmals auch Fahrer braver Limousinen. So überraschte die distinguierte Mercedes S-Klasse mit wilder Muscle-Car-Power. Ein 184 kW / 250 PS kräftiger 6,3-Liter-V8 machte aus dem 300 SEL Deutschlands schnellste Serienlimousine, die 6,5 Sekunden für den Null-auf-Hundert Sprint bedeuteten für Viertürer sogar Weltrekord. Bei den kompakten Zweitürer war es der BMW 2002, der gewohnte Hierarchien auf den Kopf stellte. Mit einem 2,0-Liter-Vierzylinder konnte der 940 Kilogramm leichte Münchner schnelle Sportwagen vor sich hertreiben. "Tempo und Tempus fugit", kommentierte ein deutsches Medium diese flüchtige Zeit.