Arbeitsunfähigkeit: Strukturelle Ausrichtung zur Entgeltfortzahlung

Mit den über den Lauf der letzten Jahre steigenden krankheitsbedingten Fehltagen häufen sich in der juristischen Praxis auch die Arbeitgeberanfragen zur Entgeltfortzahlung. Ärgerlich sind hierbei für die Arbeitgeber insbesondere solche Fehltage, die wiederholt auf Montage, Freitage oder Fenstertage fallen. Gleiches gilt für solche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, die auf jene Zeiträume ausgestellt sind, für die ein Arbeitnehmer Urlaub beantragt hat, aus betrieblichen Gründen dem Arbeitnehmer allerdings ein Urlaub nicht gewährt werden kann. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat sich jüngst in mehrfachen Urteilen mit der Problematik der Beweiskraft von ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und deren Erschütterung befasst. Besprochen werden im vorliegenden Beitrag die Urteile des BAG vom 8. September 2021 (Az. 5 AZR 149/21) und vom 13. Dezember 2023 (Az. 5 AZR 137/23). Es scheint so, als ob das BAG eine gewisse strukturelle Ausrichtung zur Entgeltfortzahlung vornimmt. Fall 1 Im Fall des Urteils des BAG vom 8. September 2021 war die spätere Klägerin bei der Beklagten seit 28. August 2018 beschäftigt. Am 8. Februar 2019 sprach die Klägerin eine Eigenkündigung zum 22. Februar 2019 aus und teilte an diesem Tag gegenüber einem Kollegen mit, dass sie nicht zur Arbeit erscheinen werde. Zeitgleich mit ihrer Kündigung vom 8. Februar 2019 reichte die Klägerin bei der Arbeitgeberin eine auf den 8. Februar 2019 datierte ärztliche Erstbescheinigung über eine voraussichtlich vom 8. bis zum 22. Februar 2019 bestehende Arbeitsunfähigkeit ein. Die Arbeitgeberin rechnete für die Zeit vom 1. bis zum 7. Februar 2019 die vertragliche Vergütung ab. Für den Zeitraum vom 8. bis zum 22. Februar 2019 leistete die Arbeitgeberin keine Zahlung mit der Begründung, der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU-Bescheinigung) sei erschüttert, eine krankheitsbedingte Fehlzeit sei nicht nachgewiesen. Es kam zum Rechtsstreit durch alle Instanzen. Fall 2 Im Fall des Urteils des BAG vom 13. Dezember 2023 war der spätere Kläger seit März 2021 bei der Arbeitgeberin beschäftigt. Der Kläger legte der Arbeitgeberin am 2. Mai 2022 eine AU-Bescheinigung vom selben Tag für die Zeit vom 2. bis zum 6. Mai 2022 vor. Mit Schreiben vom 2. Mai 2022, welches dem Kläger am 3. Mai 2022 zuging, kündigte die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis zum 31. Mai 2022 (einem Dienstag). In einer Folgebescheinigung vom 6. Mai 2022 wurde eine Arbeitsunfähigkeit des Klägers bis zum 20. Mai 2022 und in einer weiteren Folgebescheinigung vom 20. Mai 2022 bis zum 31. Mai 2022 - also exakt zum Ende des Arbeitsverhältnisses - bescheinigt. Ab dem 1. Juli 2022 (einem Mittwoch) war der Kläger wieder arbeitsfähig und nahm eine neue Beschäftigung bei einem anderen Arbeitgeber auf. Für die Arbeitgeberin bestanden ernsthaft begründete Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit und sie verweigerte die Entgeltfortzahlung. Auch hier kam es zum Rechtsstreit durch alle Instanzen. Entgeltfortzahlungsgesetz Grundlage für den Anspruch auf Entgeltfortzahlung eines Arbeitnehmers ist das Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG). Ein Arbeitnehmer hat nach § 3 Abs. 1 EFZG Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen, wenn er durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert ist, ohne dass ihn ein Verschulden trifft. Nach allgemeinen rechtlichen Grundsätzen trägt der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für die Anspruchsvoraussetzungen der unverschuldeten Arbeitsunfähigkeit. Dieser Darlegungs- und Beweislast kommt der Arbeitnehmer durch Vorlage einer ärztlichen AU-Bescheinigung nach. Diese Bescheinigung hat gemäß § 5 Abs. 1 S. 2 EFZG "lediglich" die Tatsache der Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer zu beinhalten. Nach der Rechtsprechung kommt einer ordnungsgemäß ausgestellten AU-Bescheinigung grundsätzlich ein hoher Beweiswert zu. Regelmäßig verkannt wird allerdings, dass eine AU-Bescheinigung nicht in jedem Fall "in Stein gemeißelt" ist. Erschütterung des Beweiswerts Eine AU-Bescheinigung begründet keine gesetzliche Vermutung einer tatsächlich bestehenden Arbeitsunfähigkeit mit der Folge, dass für einen Arbeitgeber nur der volle Beweis des Gegenteils zulässig wäre. Es genügt für den Arbeitgeber, wenn er den Beweiswert der AU-Bescheinigung "erschüttert". Den Beweiswert erschütternde Tatsachen können sich aus den eigenen Angaben des Arbeitnehmers, sonstigen Umständen oder auch aus der ärztlichen AU-Bescheinigung selbst ergeben. Für die Ordnungsgemäßheit der AU-Bescheinigung in arbeitsrechtlicher Sichtweise sind hierbei im Einzelfall die Vorgaben der sogenannten Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie maßgeblich, welche die Ärzte bei der Beurteilung und Ausstellung von AU-Bescheinigungen zu beachten haben. Gelingt es einem Arbeitgeber, den Beweiswert der AU-Bescheinigung zu erschüttern, tritt hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast wieder derselbe Zustand ein, wie er vor der Vorlage der AU-Bescheinigung bestand. Dies heißt: Die AU-Bescheinigung bleibt außer Betracht und es ist dann Sache des Arbeitnehmers, konkrete Tatsachen vorzutragen und zu beweisen, die den Schluss rechtfertigen, dass eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit tatsächlich vorliegt. Bei Erschütterung des Beweiswerts ist es dann Sache des Arbeitnehmers, konkrete Tatsachen darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, die den Schluss auf eine bestehende Erkrankung zulassen. Hierzu ist substantiierter Vortrag zum Beispiel dazu erforderlich, welche Krankheiten vorgelegen haben, welche gesundheitlichen Einschränkungen bestanden haben und welche Verhaltensmaßregeln oder Medikamente ärztlich verordnet wurden. Der Arbeitnehmer muss also zumindest laienhaft - bezogen auf den gesamten Entgeltfortzahlungszeitraum - schildern, welche konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bestanden haben. Entscheidung des BAG im Fall 1 Das Landesarbeitsgericht hatte in der Berufungsinstanz ausgeführt, die Arbeitgeberin habe die ärztliche AU-Bescheinigung lediglich "ins Blaue hinein" angegriffen mit ihrer Behauptung, eine medizinisch begründbare Prognose für eine 15-tägige Arbeitsunfähigkeit läge nicht vor. Allerdings ergab sich im Prozess, dass die zur AU-Bescheinigung führende Diagnose auf "sonstige und nicht näher bezeichnete Bauchschmerzen" lautete. Das BAG führte aus, dass das Berufungsgericht die Anforderungen an den arbeitgeberseitigen Vortrag zur Erschütterung des Beweiswerts der AU-Bescheinigung überspannt habe. Darüber hinaus hatte das Berufungsgericht nach den Darlegungen des BAG nicht genügend gewürdigt, dass die AU-Bescheinigung, die zeitgleich mit der Kündigung eingereicht wurde, passgenau die nach dieser Kündigung noch verbleibende Dauer des Arbeitsverhältnisses abdeckte. Das BAG wörtlich: "Das Landesarbeitsgericht hat sich zwar mit der Diagnose befasst, die dem Arbeitgeber üblicherweise gar nicht bekannt sein wird, die zeitliche Koinzidenz aber außer Acht gelassen." Die Entgeltfortzahlungsklage der Arbeitnehmerin wurde vom BAG abgewiesen. Entscheidung des BAG im Fall 2 Im Urteil vom 13. Dezember 2023 führte das BAG zunächst aus, dass es für die Frage der Erschütterung des Beweiswerts der AU-Bescheinigung nicht entscheidend darauf ankommt, ob es sich um eine Eigenkündigung des Arbeitnehmers oder um eine Arbeitgeberkündigung handelt. Auch bei einer Arbeitgeberkündigung kann der Beweiswert einer AU-Bescheinigung erschüttert werden, wenn "der Arbeitnehmer unmittelbar nach dem Zugang der Kündigung erkrankt und nach den Gesamtumständen des zu würdigenden Einzelfalls Indizien vorliegen, die Zweifel am Bestehen der Arbeitsunfähigkeit begründen". Für das BAG ergaben sich ernsthafte Zweifel an der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit aus der zeitlichen Übereinstimmung zwischen Kündigungsfrist und Dauer der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit. Das BAG machte allerdings einen Unterschied zwischen der ärztlich bescheinigten Arbeitsunfähigkeit im Zeitraum 2. Mai bis 6. Mai 2022 und dem sich anschließenden Folgezeitraum bis 31. Mai 2022. Schließlich - so das BAG - ging die Kündigung dem Arbeitnehmer erst zum 3. Mai 2022 zu, also zu einem Zeitpunkt, als sich der Arbeitnehmer am 2. Mai 2022 hatte bereits krankschreiben lassen. Im Prozess konnte keine Feststellung getroffen werden, dass der Arbeitnehmer am 2. Mai 2022 bereits von der bevorstehenden Kündigung Kenntnis hatte. Nachdem allerdings die ärztliche Folgebescheinigung sich punktgenau auf Dienstag, den 31. Mai 2022 bezogen und der Kläger punktgenau am Mittwoch, dem 1. Juli 2022, bei einem neuen Arbeitgeber seine Tätigkeit aufnehmen konnte, sah das BAG für diesen Zeitraum den Beweiswert der AU-Bescheinigung als erschüttert an. Nachdem der Arbeitnehmer auch anderweitig - außerhalb der AU-Bescheinigung - eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit bisher nicht darlegen und beweisen konnte, hob das BAG das Berufungsurteil auf. Da allerdings weitergehender Klärungsbedarf besteht, wurde der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung in die Berufungsinstanz zurückverwiesen. Rechtsanwalt Rainer Bopp kanzlei@raehaug-partner.de www.haug-partner.de KOMMENTAR Der DAK-Gesundheitsreport vom 23. Januar 2024 titelt mit der Überschrift: "Krankenstand auf Rekordhoch". Laut der Online-Veröffentlichung der allgemein bekannten Datenbank der Statista GmbH belief sich der durchschnittliche Krankenstand in der gesetzlichen Krankenversicherung im ersten Quartal des Jahres 2024 auf rund 6,8 Prozent. Dies entspricht statistisch pro Arbeitnehmer und pro Jahr rund 18 krankheitsbedingten Fehltagen. Die von den Arbeitgebern zu erbringenden Lohnfortzahlungskosten einschließlich der Arbeitgeberbeiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung dürften sich damit auf über 80 Milliarden Euro belaufen. Damit ist der Krankenstand im Vergleich zu den hohen Werten der beiden Vorjahre 2022 und 2023 deutlich angestiegen. Nachdem er zuvor während der letzten rund 20 Jahre laut Statista konstant unter 4,5 Prozent gelegen hatte, hat er sich seit der Corona-Pandemie kontinuierlich erhöht. Nach dem DAK-Gesundheitsreport sorgen insbesondere psychische Erkrankungen für 7,4 Prozent mehr Fehltage; dies steht nach Erkenntnissen der DAK im Zusammenhang mit Personalmangel und hieraus resultierenden Belastungen. Es ist kaum damit zu rechnen, dass sich die krankheitsbedingten Fehltage in naher Zukunft signifikant reduzieren werden. Für die Arbeitgeber leiten sich insgesamt zunehmende Anforderungen an das Gesundheitsmanagement ab.

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