Das Motorrad erlebt derzeit ein großes Sicherheits-Update. Elektronisch gesteuerte Sicherheitssysteme sind nach dem Siegeszug im Pkw nun auch im Zweiradbereich angekommen: Kurven-ABS und Traktionskontrolle, Fahrmodi und aktives Fahrwerk, Tempomat, Kurvenlicht und Spurassistent sollen das Leben von Bikerinnen und Bikern nicht nur komfortabler, sondern vor allem sicherer machen.
Die Motorrad-Experten von DEKRA empfehlen, sich mit den teils komplexen Systemen gut vertraut zu machen, um die Grenzen der eigenen Maschine auch unter den neuen Vorzeichen gut einschätzen zu können.
Unfalltod-Risiko 5:1 gegenüber dem Pkw
"Elektronische Sicherheitssysteme haben auch im Motorrad ein großes Potenzial, Leben zu retten, Unfallfolgen zu verringern und Unfälle komplett zu vermeiden. Dies gilt es zu nutzen", sagt Luigi Ancona, Unfallforscher bei DEKRA, und ergänzt: "Motorradfahren ist noch immer gefährlich. Das auf den Fahrzeugbestand bezogene Risiko, getötet zu werden, ist laut Unfallstatistik des Jahres 2021 in Deutschland auf dem Motorrad fünfmal so hoch wie im Pkw."
Motorrad-ABS als echter Lebensretter
Mehr Sicherheit verspricht bereits das vielfach etablierte ABS. Das System stabilisiert das Motorrad bei starkem Bremsen und kann bei den meisten Fahrern den Bremsweg verkürzen; zudem verhindert es das Überbremsen des Vorderrades und somit gefährliche Stürze.
Selbst auf nasser Fahrbahn lassen sich mit dem Blockier-Verhinderer ausgezeichnete Verzögerungswerte von bis zu 8 m/s² erzielen. Normalen Fahrern gelingen solche Werte ohne ABS in der Regel nicht. Studien zufolge könnten jährlich rund 100 Leben gerettet werden, wenn schon ABS in allen Motorrädern arbeiten würde. Konsequenz des Gesetzgebers: Seit 2017 gehört ABS bei neuen Maschinen über 125 ccm Hubraum in der EU zur Pflichtausstattung.
FAS-Hightech bei großen Maschinen
In der Motorrad-Oberklasse steht bei Assistenzsystemen mittlerweile ein breites Spektrum zur Wahl. Es reicht von Kurven-ABS über Traktionskontrolle, verschiedene Fahrmodi und elektronisch gesteuerte Federung bis hin zu Tempomat mit Abstandsregelung sowie Kurvenlicht, zu Spur- und Schaltassistent. "Von einzelnen Systemen zu reden, ergibt hier eigentlich keinen Sinn, denn es ist alles mit allem vernetzt, die verschieden Systeme arbeiten ständig eng zusammen", erklärt Ancona.
Mit Hilfe eines Kurven-ABS ist es möglich, selbst in starker Schräglage zu bremsen und die Fahrlinie beizubehalten. Damit lassen sich kritische Situationen leichter entschärfen, bei denen in einer Kurve unerwartet gebremst werden muss. Integralbremssysteme sorgen für eine optimale Verteilung der Bremskräfte auf Vorder- und Hinterrad und erhöhen so die Stabilität beim Bremsen. Ergänzend kann eine spezielle Traktionskontrolle selbst in Kurven die Motorkraft regulieren, um die Haftung auf der Fahrbahn zu erhalten.
Sicherheitsgewinn bei wechselnden Bedingungen
Eine Wheelie-Kontrolle wiederum unterbindet bei zu starkem Beschleunigen das Abheben des Vorderrades. Mit Fahrmodi wie "Touring", "Urban" oder "Rain" lässt sich die Charakteristik der Maschine auf die Fahrsituation, die Witterung oder den Fahrbahnzustand abstimmen. "Das bedeutet mehr Sicherheit und gibt den Fahrenden bei wechselnden Straßen- und Wetterbedingungen ein besseres Fahrgefühl", sagt der Unfallforscher.
Die Befürchtung, Fahrende könnten zu viel Handlungsfreiheit an die Assistenzsysteme verlieren, teilt er nicht. "Die Systeme verrichten ihre Dienste eher im Hintergrund und greifen nur dann ein, wenn sich Risiken abzeichnen. Das Erlebnis beim Motorradfahren und die Autonomie des Fahrers bleiben erhalten", sagt Ancona.
Nutzen für 5 Mio. Kradfahrer
Im Normalfall würden die knapp fünf Millionen Motorradfahrer in Deutschland von den neuen Sicherheitssystemen stark profitieren, davon ist Ancona überzeugt. "Beim Kauf einer gebrauchten Maschine lohnt es sich, neben einem guten technischen Zustand auf eine vernünftige Sicherheitsausstattung zu achten. ABS beispielsweise zählt für mich heute zu den absoluten Basics."
Höheres Risiko vermeiden
Die neue Technik darf die Fahrenden allerdings nicht dazu verleiten, den Sicherheitsgewinn, den die Assistenzsysteme bringen, durch allzu forsche Fahrweise zunichtezumachen. "Selbst die besten Systeme sind nicht in der Lage, die Gesetze der Fahrphysik außer Kraft zu setzen", so der DEKRA Experte.
Der Unfallforscher empfiehlt weiter, sich bei modernen Maschinen intensiv mit Funktionen, Bedienung und Grenzen der verbauten Assistenzsysteme vertraut zu machen. Empfehlenswert sei der regelmäßige Besuch eines Motorrad-Sicherheitstrainings, bei dem das unter professioneller Anleitung geschieht.