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Mythos und Wahrheit: Weibliche Crashtest-Dummys bei Mercedes-Benz

17.02.2024 17:13 Uhr | Lesezeit: 10 min
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Mercedes-Benz nutzt mehr als 120 weibliche und männliche Dummys mit rund 20 verschiedenen Typen bei den Crashtests. Mit ihren rund 150 Sensoren messen die Dummys exakte Kräfte und Wege, die auf sie bei einem Crashtest einwirken.
© Foto: Mercedes-Benz

Lange bevor weibliche Dummys gesetzlich gefordert wurden, machte Mercedes-Benz sie bereits zum Standard für Frontal- und Seitencrashs. Moderne Dummys bilden Verletzungsrisiken von Fahrzeuginsassen ab – unabhängig von ihrem Geschlecht.

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Sie ist rund 1,50 Meter groß, wiegt 49 Kilogramm und verfügt über zahlreiche Sensoren an verschiedenen Körperstellen mit bis zu 150 Messpunkten (bei Dummys der neuesten Generation). Bereits seit 20 Jahren ist die sogenannte "Fünf-Prozent-Frau" Fahrerin, Beifahrerin oder Fondinsassin bei Frontal-Crashtests von Mercedes-Benz – und damit gleichberechtigte Partnerin des klassischen männlichen Dummys "Hybrid III 50", der durchschnittlich 1,75 m groß und 78 kg schwer ist (50 Prozent der Männer sind kleiner und leichter)

Damit führte das Unternehmen den weiblichen sogenannten Dummy Hybrid III 5 ein, bevor er offiziell vom Gesetzgeber gefordert wurde. Er hat die Anthropometrie einer Frau mit weiblichen Brüsten und Beckenknochen. Nur fünf Prozent der amerikanischen Frauen sind laut der zugrunde liegenden Statistik kleiner oder leichter. Heute finden sich Testvorschriften mit der "Fünf-Prozent-Frau" auch in Ratings von Verbraucherschutzverbänden und verschiedenen Gesetzen weltweit wieder.

Ebenfalls bereits seit zwei Jahrzehnten ist der weibliche Dummy SID-IIs bei Mercedes-Benz Crashtests im Einsatz. Er hat dieselbe Anatomie wie der Hybrid III 5 und ist speziell für Seitenaufprallversuche entwickelt. Anders als in den USA ist er in Europa bislang jedoch nicht gesetzlich vorgeschrieben.

900 Crashtests mit 120 Dummys in 21 Varianten

Sicherheit ist ein wesentlicher Teil der DNA des schwäbischen Autobauers. Das Unternehmen gilt als Erfinder der modernen Fahrzeugsicherheit – und nimmt bis heute eine Vorreiterrolle ein. Die Basis dafür ist die Strategie der "Real-Life Safety": Seit mehr als 50 Jahren untersucht die unternehmenseigene Unfallforschung Verkehrsunfälle, an denen MB-Fahrzeuge beteiligt sind. Ziel ist es, zu verstehen, wie Unfälle entstehen und durch welche verbesserten Schutzsysteme sie verhindert werden könnten. Hinzu kommen bis zu 900 Crashtests und 1.700 Schlittenversuche pro Jahr im Mercedes-Benz Technologiezentrum für Fahrzeugsicherheit in Sindelfingen.

Dafür stehen 120 Dummys in 21 Varianten bereit – vom Säugling über die Fünf-Prozent-Frau und den 50-Prozent-Mann bis hin zum großgewachsenen, schweren Mann mit 1,87 Meter und 101 Kilogramm (nur 5 Prozent aller Männer sind größer und schwerer). Die Ergebnisse aus den Crashtests und der Unfallforschung fließen in die Entwicklung neuer Sicherheitstechnologien und die Verbesserung bestehender Systeme ein.

Rund um das Thema weibliche Dummys gibt es viele Fragen, die in der Öffentlichkeit aktuell diskutiert werden. Hanna Paul, Leiterin Mercedes-Benz Dummy-Testing, unterzieht sechs Mythen einem Faktencheck:

Mythos 1: "Frauen sind im Auto nicht so gut geschützt wie Männer"

Hanna Paul sagt dazu: "Nein, das stimmt nicht." Sie liefert dafür zunächst zwei generelle Erkenntnisse aus den Unfalldatenbanken: Bei schweren oder tödlichen Verletzungen bestehen keine erkennbaren relevanten Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Und bei leichten Verletzungen gibt es im Einzelfall gewisse Unterschiede. Je nach Körperregion sind mal die Frauen (Beine/Füße und Schleudertrauma beim Heckaufprall) und mal die Männer (Kopf, Brust) stärker betroffen.

"Darüber hinaus haben Analysen unserer unternehmenseigenen Unfallforschung ergeben, dass bei Mercedes-Benz Fahrzeugen keine Auffälligkeiten in Richtung Frauen oder Männer bestehen. Das zeigt, dass die Auslegung der Mercedes-Benz Fahrzeuge im Realunfall funktioniert. Dies untermauert unsere Ansprüche im Sinne der Real-Life Safety-Philosophie."

Mythos 2: "Statistiken zeigen, dass Frauen schlechter geschützt sind"

Hier müsse man nach Einschätzung von Hanna Paul "genauer hingucken", denn die Unfallzahlen, die in diesen Statistiken genannt werden, stammen "oft noch aus den 1980er Jahren". Inzwischen habe sich bei der passiven Fahrzeugsicherheit aber viel getan. Die Fahrgastzellen auch kleiner Fahrzeuge sind viel stabiler geworden. Und moderne Rückhaltesysteme haben in allen Fahrzeugklassen Einzug gehalten.

Der Gurtkraftbegrenzer, der den Druck auf den Brustkorb limitiert, passt sich beispielsweise mit einem definierten Kraftverlauf den Erfordernissen der Insassinnen und Insassen an. Ein anderer Aspekt aus den oft herangezogenen Studien gilt indes noch heute: Frauen fahren – weltweit statistisch gesehen – oft ältere, kleinere Autos. Das bestätigt unter anderem eine Untersuchung der amerikanischen Versicherungsorganisation Insurance Institute for Highway Safety (IIHS). Allerdings habe sich das Sicherheitsniveau in allen Fahrzeugsegmenten, also auch bei Kleinwagen, deutlich verbessert. Die amerikanische Verkehrssicherheitsbehörde National Highway Traffic Safety Administration (NHTSA) stellte daher fest: Die Unterschiede bei den Todesfallraten zwischen Männern und Frauen gingen ab dem Modelljahr 2000 deutlich zurück.

Mythos 3: "In Crashtests werden vorwiegend männliche Dummys eingesetzt"

Wie auch immer man zu diesem Mythos stehen mag, gelte er bei Mercedes-Benz ausdrücklich nicht, sagt Hanna Paul. "Wir verwenden seit über 20 Jahren einen weiblichen Frontalaufprall-Dummy und einen weiblichen Seitenaufprall-Dummy bei unseren Crashtests."

Dummys seien aber keine menschlichen Puppen", sondern Messinstrumente, die physikalische Kräfte und Wege messen. Gewicht und Größe der Dummy-Geschlechter würden von realen menschlichen Daten abgeleitet. Paul: "Dabei ist der weibliche Dummy, abgestimmt auf die weibliche Anatomie, skaliert. Doch – und das ist entscheidend – die Kräfte, die bei Crashtests auf die Dummys wirken, werden in Verletzungsrisiken umgerechnet. Die Kalkulation dieser Risiken basiert auf den Verletzungsdaten von Männern und Frauen. Die gängigen Grenzwerte bei den weiblichen Dummys sind für dasselbe Verletzungsrisiko niedriger als bei den männlichen. Daher bilden die Dummys das Verletzungsrisiko von Männern und Frauen nach ihren jeweiligen anatomischen Gegebenheiten sehr gut ab. Das bedeutet: Größe und Gewicht der von Mercedes-Benz eingesetzten Dummy-Typen sind geschlechtsspezifisch."

Der Fünf-Prozent-Dummy (nur fünf Prozent der Frauen sind statistisch kleiner oder leichter) hat zwar die Anatomie einer Frau, repräsentiere aber bezüglich der Verletzungsrisiken die Gruppe der kleinen Menschen – egal ob Frau oder Mann.

Mit anderen Worten: "Die Verletzungsrisiken sind menschlich – nicht männlich oder weiblich", so Hanna Paul. Ähnliches gelte daher für die anderen Dummys: Der 50-Prozent-Mann (er repräsentiert den durchschnittlichen Mann – 1,75 Meter groß und 78 Kilogramm schwer) ahme zwar die Anatomie eines Mannes nach, repräsentiere aber genauso die Verletzungsrisiken einer durchschnittlichen Frau.

Aktuell forscht die NHTSA daran, inwiefern Verletzungsrisiken vom Geschlecht abhängen. "Die ersten veröffentlichten Ergebnisse bestätigen unsere Erkenntnisse, dass das Geschlecht nicht die wichtigste Einflussgröße auf die Verletzungshäufigkeit darstellt. Die heute genutzten Dummys sind demnach wirksame Messmittel für die Entwicklung von Sicherheitssystemen", so die Leiterin des Mercedes-Benz Dummy-Testing.

Mythos 4: "Crashtest-Dummys sind nicht vielfältig genug"

In den letzten Jahren hat die Zahl der Dummy-Typen stark zugenommen – auch wegen der vielen unterschiedlichen Kollisionsarten, die geprüft werden. Insgesamt besitzt Mercedes-Benz laut Paul über 120 Dummys. Es gibt sie in verschiedenen Größen- bzw. Gewichtsstufen – vom 3,5 Kilogramm schweren Säugling über Kinder und Jugendliche verschiedener Altersstufen sowie die Fünf-Prozent-Frau bis hin zu schweren Dummys. Unterschieden wird auch nach Typen für Frontal-, Heck- oder Seitenaufprall.

Welche Dummys im Crashtest zu verwenden sind, ist in den Versuchsspezifikationen von Gesetzen, Ratings und spezifischen Mercedes-Benz Lastfällen festgelegt. Für eine weltweite Vergleichbarkeit sind alle Details zu den Dummys geregelt. Sogar die Art der Kleidung wird vorgeschrieben.

Bei der Dummy-Technologie findet gerade ein Generationswechsel statt. Der fortschrittliche Thor-Dummy löst den 1986 eingeführten Hybrid III Dummy ab. Thor ist biofideler, sprich menschenähnlicher, und er bietet erweiterte Messmöglichkeiten. Gemäß den internen Untersuchungen bei Mercedes-Benz würde eine weitere Ausweitung der Dummy-Arten keine signifikante Verbesserung in Bezug auf das Thema Sicherheit herbeiführen. 

Mythos 5: "Schwangere sind schlechter geschützt"

Hanna Paul: "Ein Systemvergleich in einer aktuellen Studie des ADAC zeigt, dass der normale Sicherheitsgurt sowohl die werdende Mutter als auch das ungeborene Kind bei einem Unfall gut schützt. Schwangere sind laut ADAC Unfallforschung beim Autofahren keinem höheren Risiko  ausgesetzt als andere Autofahrerinnen. Der normale Dreipunktgurt kann, sofern korrekt genutzt, die werdende Mutter und das ungeborene Kind bei einem Unfall gut schützen."

Mythos 6: "Simulationen machen physische Crashtests bald überflüssig"

Hinweise daraus, dass physische Crashtests bald überflüssig würden, sieht Hanna Paul nicht. . Zwar könne die Berechnung der Kinematik und des Verformungsverhaltens die Anzahl von Gesamtfahrzeugversuchen deutlich reduzieren und die Entwicklung beschleunigen. Am Fahrzeugcrash führe aus mehreren Gründen aber kein Weg vorbei: Crashtests seien nötig, um die Simulationen, die mit vielen Annahmen durchgeführt werden, zu bestätigen. Außerdem seien sie gesetzlich oder von Ratings vorgegeben. Das Zusammenspiel aus Sensorik, Crash- und Dummy-Verhalten lasse sich im Gesamtfahrzeugversuch am besten absichern. 

Neue Dummy-Generation ist noch menschenähnlicher

Die Insassensimulation berechnet, wie sich ein Dummy im Fahrzeug verhält. Darüber hinaus arbeitet Mercedes-Benz zusätzlich an sogenannten Mensch-Modellen (Human Body Model, HBM). Sie sollen die Anatomie des Körpers detaillierter abbilden – Knochen, Muskeln und Organe. Hanna Paul abschließend: "So lässt sich im Gegensatz zum Dummy nicht nur eine Wahrscheinlichkeit für eine Verletzungsschwere, sondern die tatsächlich zu erwartende Verletzungsart in der jeweiligen Körperregion bewerten. Mit HBM bewerten wir zum Beispiel innovative Rückhaltesysteme wie PRE-SAFE Impuls Seite."

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"Aus den Dummy-Crashtets können wir wichtige  Rückschlüsse auf Verletzungswahrscheinlichkeiten ermitteln", sagt Hanna Paul, Leiterin Mercedes-Benz Dummy-Testing.
© Foto: Mercedes-Benz
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