Aktuelle Fahrversuche von DEKRA zeigen, wie sich mit abnehmender Profiltiefe der Bremsweg vor allem auf nasser Fahrbahn verlängert. "Unsere Tests bestätigten, dass die gesetzlich vorgeschriebene Mindestprofiltiefe von 1,6 mm die absolute Untergrenze ist. Im Interesse der eigenen Sicherheit sollte man deshalb seine Reifen schon austauschen, bevor sie so weit abgefahren sind", bilanziert DEKRA Reifenexperte Christian Koch.
Die Versuche auf verschiedenen Teststrecken am DEKRA Lausitzring zielten auf konkrete Erkenntnisse darüber, welchen Einfluss die Profiltiefe für sich allein auf das unfallrelevante Fahrverhalten eines Pkw haben kann. "Dazu haben wir neue Reifensätze namhafter Hersteller in zwei verschiedenen Größen bei einem Runderneuerer maschinell abrauen, also die Profiltiefe reduzieren lassen", erklärt Koch. Es folgten mehrere Fahrversuche jeweils mit Profiltiefen von 7-8 mm (Neuzustand), 4-5 mm und 2-3 mm.
Bremsweg-Verlängerung um bis zu 18 Prozent...
In der ersten Versuchsreihe wurde ein Pkw mit den unterschiedlichen Reifensätzen jeweils aus 100 km/h voll abgebremst, und zwar sowohl auf nasser als auch auf trockener Fahrbahn (ABS-Bremsung nach DIN 70028). Dabei verlängerte sich der Bremsweg mit der niedrigsten Profiltiefe im Vergleich zum Neuzustand vor allem bei Nässe deutlich. "Wir haben bei den beiden verschiedenen Reifendimensionen eine Verlängerung des Bremswegs zwischen 16 und 18 Prozent gemessen", so Koch.
... führt zu einer Restgeschwingkeit von 30 km/h
Was ein solcher Unterschied im Ernstfall bedeutet, erläutert Peter Rücker, Leiter der DEKRA Unfallforschung und Unfallanalytik: "An der Stelle, an der man mit neuwertigen Reifen zum Stehen kommt, hat das Fahrzeug mit den auf 2-3 mm Profiltiefe reduzierten Reifen noch eine Restgeschwindigkeit von rund 30 km/h. Prallt man etwa mit dieser Geschwindigkeit gegen das Heck eines Lkw, sind schwere Verletzungen möglich. Kollidiert man so z.B. mit einem Radfahrer, sind für diesen schwerste, schlimmstenfalls tödliche Verletzungen wahrscheinlich."
Auch auf trockener Fahrbahn wurde der Bremsweg mit den abgerauten Reifen länger, allerdings nur um 2,4 bis 8,5 Prozent.
In nassen Kurven geht schnell nichts mehr
Die zweite Versuchsreihe hatte eine stationäre Kreisfahrt zum Inhalt (nach ISO 4138). Dabei beschleunigt ein professioneller Testfahrer ein Fahrzeug in einem festen Kurvenradius nach und nach so lange, bis die Querkraftübertragung in den Grenzbereich kommt und das Fahrzeug ausbricht – also bis zur so genannten Kurvengrenzgeschwindigkeit. Bei diesen Versuchen machte die Profiltiefe auf trockener Fahrbahn nur einen geringen Unterschied.
Bei Nässe dagegen sah die Sache anders aus: "Die Kurvengrenzgeschwindigkeit lag mit 2-3 mm Profiltiefe zwischen 10 und 18 Prozent niedriger als mit den Neureifen", berichtet Reifenexperte Koch. "Das bedeutet: Das Fahrzeug gerät schon bei deutlich niedrigeren Geschwindigkeiten in einen instabilen Fahrzustand, und das führt leicht zum Unfall."
Elch und Aquaplaning bergen hohe Crash-Gefahren
Die dritte Versuchsreihe, der doppelte Fahrspurwechsel (nach ISO 3888-1), auch bekannt als "Elchtest", untermauerte die Ergebnisse.
"Wir haben insgesamt festgestellt, dass mit abnehmender Profiltiefe die Reifen bei der Kraftübertragung zwischen Fahrzeug und Fahrbahn insbesondere bei Nässe deutlich schlechtere Leistungen gezeigt haben. Das bedeutet, dass kritische Situationen leichter entstehen können und dass gleichzeitig das Stabilitätsprogramm ESP weniger effektiv eingreifen kann. Hinzu kommt, dass mit geringerem Profil das Thema Aquaplaning relevanter wird", so Koch. Von Aquaplaning spricht man, wenn der Reifen auf dem Wasserfilm einer nassen Fahrbahn aufschwimmt und so den Kontakt zur Straße verliert. "Bei höherer Profiltiefe kann das Profil das Wasser besser aufnehmen, was die Aquaplaning-Gefahr reduziert", so Christian Koch.
Auch das Reifenalter ist relevant
Die Versuche mit den maschinell abgerauten Reifen zeigen bei alledem nur die eine Seite des Reifenverschleißes. "Im wahren Leben kommt noch hinzu, dass das Gummi mit zunehmendem Alter in der Regel nach und nach aushärtet, was ebenfalls die Leistungsfähigkeit negativ beeinflusst. Deshalb kann man davon ausgehen, dass real abgefahrene Reifen, die schon ein paar Jahre alt sind, in diesen Versuchen noch schlechter abgeschnitten hätten", sagt Christian Koch. "Wir wollten aber gezielt nur die Auswirkung der Profiltiefe untersuchen; deshalb waren auch die abgerauten Reifen mit Blick auf die Gummimischung noch neu."
Die Genehmigung und Zulassung von Reifen in Bezug auf Rollwiderstand, Geräuschemission und Nassgriffigkeit findet in der EU zurzeit noch ausschließlich auf der Basis ihres fabrikneuen Zustands statt. "Wie gut ein Reifen mit verminderter Profiltiefe seine Arbeit verrichtet, wird bisher nicht berücksichtigt", so Koch. Daran werde sich in Zukunft allerdings etwas ändern, denn entsprechende Vorgaben und Normen "befinden sich bereits in der Abstimmungsphase".
Reifenmängel sind ebenfalls relevante Unfallursachen
Unter den Reifenherstellern herrscht aktuell kein Konsens, ab welcher Mindestprofiltiefe und in welchem Alter die Kraftübertragung zwischen Fahrzeug und Fahrbahn spürbar nachlässt. "Tatsache ist, dass in der amtlichen Unfallstatistik in Deutschland bei Unfällen aufgrund technischer Mängel an Pkw die mangelhafte Bereifung in 38 Prozent der Fälle als Ursache benannt wird", so DEKRA Unfallexperte Peter Rücker. "Dabei mag sicher eine Rolle spielen, dass zum Beispiel ein abgefahrener Reifen für die Polizeibeamten an der Unfallstelle relativ einfach zu erkennen ist; möglicherweise ist die Bereifung hier also statistisch eher überrepräsentiert. Davon abgesehen zeigt sich aber schon: Reifenmängel spielen eine signifikante Rolle im Unfallgeschehen."