Angesichts explodierender Energiepreise und drohender Versorgungsengpässe werden die Rufe aus der Wirtschaft nach einem regulären Weiterbetrieb der Atomkraftwerke lauter. Die Unternehmer Baden-Württemberg (UBW) fordern die Bundesregierung auf, die drei verbliebenen Kraftwerke für die Stromproduktion zu nutzen, bis die Energiekrise überwunden ist.
"Um den drastisch gestiegenen Strompreisen zu begegnen und gleichzeitig für eine sicherere Stromversorgung zu sorgen, müssen jetzt alle Erzeugungskapazitäten in Deutschland mobilisiert werden, die kurzfristig zur Verfügung stehen", erklärte UBW-Hauptgeschäftsführer Peer-Michael Dick in Stuttgart. "Dies erwarten im Übrigen auch unsere Nachbarstaaten von uns, auf deren Unterstützung wir umgekehrt im Fall einer Gasmangellage angewiesen sind."
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hatte am Montag auf der Grundlage einer Untersuchung zur Stabilität der Stromversorgung ("Stresstest") vorgeschlagen, Isar 2 in Bayern und Neckarwestheim in Baden-Württemberg noch bis Ende April in eine Einsatz-Reserve zu nehmen. Nach dem unter der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) beschlossenen Ausstieg aus der Nuklearenergie sollten eigentlich alle deutschen Atomkraftwerke zum Jahresende endgültig vom Netz gehen.
"Habeck ist hier auf halbem Weg stehengeblieben"
Dick bemängelte das Vorhaben des Wirtschaftsministers: "Es ist völlig unverständlich, warum Habeck nur zwei Kernkraftwerke berücksichtigen will – und diese auch nur als Notfallreserve in Betrieb halten will. Habeck ist hier auf halbem Weg stehengeblieben."
Kritik an den Plänen Habecks kommt auch von Energieexpertinnen und -experten. "Die Energieversorgung in Deutschland ist gesichert, auch ohne Atomkraft", sagte die Energieökonomin Claudia Kemfert der "Rheinischen Post". Mögliche Versorgungsengpässe würden nicht durch das deutsche Netz, sondern vor allem durch marode Atomkraftwerke in Frankreich verursacht.
"Atomkraftwerke sind für die Netzreserve ungeeignet, da sie nicht mal eben an- und ausgeschaltet werden können", so Kempfert weiter. Sie müssten sicherheitstechnisch überprüft werden, es müssten Personal und Brennelemente vorgehalten werden. "Aufwand und Ertrag stehen in keinem Verhältnis." Zur Sicherung der Versorgung sieht sie den Ausbau der erneuerbaren Energien, ein effektives Energie- und Lastmanagement, den Ausbau von Speicheroptionen und vor allem eine Ausweitung der Kapazitäten in Frankreich und anderen europäischen Ländern als elementar an.
Ähnlich äußerte sich die Wirtschaftsweise Veronika Grimm. Die Atomkraftwerke nur in Bereitschaft zu halten, aber nicht laufen zu lassen, sei "eigentlich die schlechteste aller Lösungen", sagte sie im ZDF. Es entstünden die Kosten der Bereithaltung, da man das Personal bezahlen und die Versorger entschädigen müsse. "Aber es wird keine günstige Energie produziert, die ja einen positiven Einfluss auf den Strompreis hätte." Vielmehr sollten die verfügbaren Kraftwerke an den Markt gebracht werden, um mit einem größeren Stromangebot den Preis zu drücken.
Toni Seiler