Am Kottbusser Tor in Berlin stehen immer noch Kerzen, daneben liegen Blumen. Eine Radfahrerin wollte an einem Nachmittag Anfang Januar die Kreuzung überqueren. Ein rechtsabbiegender Lastwagen erfasst die 68-Jährige, überrollt sie. Die Frau stirbt. Am Freitag diskutierten nur wenige Kilometer von der Unfallstelle entfernt die Abgeordneten des Bundestages über derartige Unfälle. Dabei setzten sich die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD mit einem Antrag durch, der die Regierung zu zusätzlichen Maßnahmen für einen sichereren Radverkehr in Deutschland auffordert.
Und das, obwohl Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) bereits die Straßenverkehrsordnung ändern will. Nach seinen Vorstellungen soll zum Beispiel ein ausreichender Sicherheitsabstand beim Überholen von Fahrradfahrern durch Autofahrer festgeschrieben werden. Mindestens 1,5 Meter innerorts und zwei Meter außerorts würden dann im Gesetz stehen. Zudem könnte für Kraftfahrzeuge, die schwerer als 3,5 Tonnen sind, Abbiegen nur noch in Schrittgeschwindigkeit erlaubt sein. Das sei alles schon ganz gut, sagt SPD-Verkehrspolitiker Mathias Stein. Aber: "Das geht noch besser."
Der CSU-Verkehrspolitiker Alois Rainer sagte: "Wir brauchen uns nichts vormachen - die Mobilität in unserem Land wird sich ändern." In den Städten sei das Fahrrad meist das flotteste Fortbewegungsmittel. Der CDU-Verkehrspolitiker Christoph Ploß sagt, es könne nicht sein, dass schwächere Verkehrsteilnehmer durch Rücksichtslosigkeit gefährdet würden. "Radfahrer, die sich an die Verkehrsregelen halten, sollen deutliche Verbesserungen erfahren."
Mindestens zwei- bis dreijährige Testphase
Nach dem Willen der Fraktionen soll unter anderem getestet werden, wie der Verkehr aussehen würde, wenn innerorts generell nur noch Tempo 30 erlaubt wäre und Tempo 50 auf Hauptverkehrsstraßen eigens angeordnet werden müsste. Aus SPD-Sicht ließe sich durch die Absenkung des Tempolimits die Verkehrssicherheit erhöhen. "Bislang finden solche Absenkungen aber immer nur gezielt und in der Regel nicht in größeren Gebieten statt", sagt die SPD-Verkehrspolitikerin Kirsten Lühmann. Um valide Daten zu bekommen, benötige man mindestens zwei bis drei Jahre Testphase.
Die FDP will beim Schutz für Radler eher auf eine digitale Verkehrslenkung und Warnsysteme setzen. Den Zwang zum Schritttempo beim Abbiegen und ein generelles Tempo-30-Limit lehnt die Fraktion ab. "Autofahrer sind nicht das Feindbild der deutschen Verkehrspolitik", sagt der FDP-Verkehrspolitiker Christian Jung.
Die AfD fürchtet die "ungehinderte Reise in die ideologische Anti-Auto-Politik". Tempo 30 in ganzen Städten würde die Verkehrsberuhigung in den Nebenstraßen zunichte machen, sagt der AfD-Verkehrspolitiker Wolfgang Wiehle.
Der Mobilitätsclub ADAC äußert eine ähnliche Befürchtung: Auf vielen etwas kleineren Hauptstraßen dürfte es schwierig sein, Tempo 50 anzuordnen. "Damit hätten diese Straßen eine wichtige Funktion eingebüßt: den Verkehr bündeln und Nebenstrecken und Wohngebiete von unerwünschtem Schleichverkehr zu verschonen."
Dass Tempo 30 der große Wurf für Fahrradfahrer wäre, bezweifelt der Leiter der Unfallforschung der Versicherer, Siegfried Brockmann. Man könne davon ausgehen, dass Autofahrer dann mit etwa 40 unterwegs wären, aber: Schon heute seien nur bei elf Prozent der Fahrradunfälle mit Personenschaden Auto oder Lastwagen mehr als 40 km/h schnell. Das liege unter anderem daran, dass die meisten Unfälle beim Abbiegen passierten. "Allerdings wäre es mal einen Großversuch wert - zum Beispiel in einer ganzen Kommune", meint Brockmann.
Gerne mehr als einen Großversuch will der Fahrradverband ADFC, der sich nach eigenen Angaben seit längerem für ein allgemeines Tempo-30-Limit in Städten einsetzt. "Grundsätzlich sollte gelten: Sicherheit für alle vor Tempo für einige", heißt es vom Verband.
Den Grünen und den Linken gehen die Pläne der Regierung und der Koalitionsfraktionen nicht weit genug. "Sie machen nur das, was das Auto nicht einschränkt", sagt der Grünen-Radverkehrspolitiker Stefan Gelbhaar mit Blick auf Verkehrsminister Andreas Scheuer. Geringere Geschwindigkeiten führten zu weniger schweren Unfällen.
Linke fordert weitergehende Maßnahmen
Die Linken-Fraktionsvorsitzende Amira Mohamed Ali sagte: "Wie gewohnt bleiben Union und SPD völlig hinter ihren Möglichkeiten zurück." Im Bundestag sprach sich die Partei für weitergehende Maßnahmen wie die verpflichtende Ausstattung von Lkw mit Abbiegeassistenzsystemen und Fahrradparkhäusern an jedem größeren Bahnhof aus.
Zuspruch für den Antrag der Koalitionsfraktionen kam vom Deutschen Städtetag. Den Kommunen werde ein verbesserter Spielraum gegeben, um den Radverkehr stärken zu können, sagte Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy. "Etwa dadurch, dass Städte und Gemeinden Tempo 30 km/h für ganze Straßen unabhängig von besonderen Gefahrensituationen anordnen könnten." Klar sei aber auch, dass die Städte den Ausbau der Radinfrastruktur nicht alleine stemmen könnten. Hier sei eine Radwegeoffensive von Bund, Ländern und Kommunen nötig.
Unfallforscher Brockmann sieht vor allem Potenzial in den Kommunen. "Entscheidend wäre eine bessere Infrastruktur." Dazu gehöre, dass es vor Kreuzungen keine Sichthindernisse wie parkende Autos zwischen Radlern und Autos gebe. Zudem brauche man getrennte Grünphasen für Fahrräder und Kfz. Denn Unfälle wie der Anfang Januar in Berlin-Kreuzberg passierten oft. "Der Radfahrer wird vor allem beim Abbiegeunfall verletzt und getötet", so der Experte. (dpa)
Alter Zausel
Dieter M. Hölzel
Frried Berkenkamp
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