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Mobilitätswandel: Berliner Friedrichstraße soll ohne Autos wieder aufblühen

21.08.2020 13:09 Uhr
Mobilitätswandel: Berliner Friedrichstraße soll ohne Autos wieder aufblühen
Berliner Friedrichstraße: Auf einem 500 Meter langen Abschnitt zwischen Französischer und Leipziger Straße, an dem auch das Luxus-Kaufhaus Galeries Lafayette liegt, sind Autos für fünf Monate bis Ende Januar tabu.
© Foto: picture alliance/Paul Zinken/dpa

Um den öffentlichen Raum ist in vielen Großstädten ein Kampf entbrannt. In Berlin soll es für Autos in Zukunft deutlich weniger Platz geben. Wie das funktionieren kann, soll sich nun in der Friedrichstraße zeigen.

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Grüne Allee statt grauer Betonschick, Fahrräder statt Blechlawine, Oase der Erholung statt Verkehrsstress für Fußgänger: Die Friedrichstraße, eine der bekanntesten Straßen in Berlins Mitte, wird zum Experimentierfeld. Auf einem 500 Meter langen Abschnitt zwischen Französischer und Leipziger Straße, an dem auch das Luxus-Kaufhaus Galeries Lafayette liegt, sind Autos für fünf Monate bis Ende Januar tabu. Stattdessen sollen Menschen auf einer neugestalteten "Flaniermeile" nahe dem Gendarmenmarkt erleben können, wie sich Großstadt ohne Verkehrslärm, Stau und Benzingeruch anfühlt.

Das in Berlin einzigartige Modellprojekt, das am Freitag mit der Sperrung der Straße begann und nach diversen Vorbereitungen dann am 29. August offiziell startet, könnte zum Vorbild werden für andere Stadtteile oder Kommunen. Es könnte ein Baustein sein für eine ökologische Verkehrswende, die der rot-rot-grüne Senat seit einigen Jahren propagiert. Kernpunkte dabei: Weniger Platz für Autos, mehr Platz und damit mehr Sicherheit für Radfahrer und Fußgänger, ein besserer ÖPNV, sauberere Luft und mehr Lebensqualität.

Und die Hauptstadt steht mit dem Bemühen, den öffentlichen Raum ein stückweit neu aufzuteilen, nicht allein. Hamburgs Prachtboulevard an der Binnenalster etwa, der Jungfernstieg, soll zum Weihnachtsgeschäft weitgehend autofrei und dann ab kommendes Jahr komplett umgebaut werden. Und in München wird über eine autofreie Altstadt diskutiert.

Auf dem absteigenden Ast

Im Fall Berliner Friedrichstraße, die sich nach der Wiedervereinigung zur schicken Einkaufsmeile mauserte und zeitweise dem Kudamm in der City West den Rang ablief, kommt ein weiterer Aspekt dazu. Seit geraumer Zeit läuft es nicht mehr so wie früher, etliche Geschäfte haben geschlossen, Räume stehen leer, Händler beklagen Umsatzrückgänge. Die Corona-Krise hat den Trend noch verschärft.

Der Bürgermeister des Stadtbezirks Mitte, Stephan von Dassel, glaubt, dass der Modellversuch auch hier neue Impulse setzen kann, wenn sich Anrainer kreativ einbringen. "So kann eine Attraktivität entstehen, die die Friedrichstraße wieder zu einer Top-Adresse macht", meint der Grüne. "Einkaufsstraßen haben Zukunft, wenn der öffentliche Raum nicht durch den motorisierten Individualverkehr dominiert wird."

Um das zu beweisen und neue "Aufenthaltsqualität" zu schaffen, haben sich die Beteiligten mächtig ins Zeug gelegt. 65 Bäume sollen der Friedrichstraße "Alleecharakter" verleihen, Sitzgelegenheiten mit Tischen und Open-Air-Gastronomie zum Verweilen einladen. In gläsernen Schaukästen können Gewerbetreibende ihre Waren präsentieren. Veranstaltungen, Workshops und Designmärkte sind auch geplant. Radfahrer bekommen eine vier Meter breite Durchfahrt, für Fußgänger soll genügend Platz zum Flanieren und Verweilen sein. Die Belieferung der Geschäfte soll über Nebenstraßen abgewickelt werden.

Für Kritiker klingt das wenig überzeugend. Der Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK), Jan Eder, spricht von einem Schnellschuss ohne vernünftige Planung - und ohne Beteiligung der Akteure vor Ort. "Leidtragende sind Händler und Gewerbetreibende." So sieht das auch der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Berlin-Brandenburg, Niels Busch-Petersen. Er bezweifelt, dass ein Radschnellweg auf der Friedrichstraße gemütliches Bummeln ermöglicht. "Dem Handel erweist der Senat so einen Bärendienst." Eine IHK-Umfrage ergab, dass eine knappe Mehrheit der Gewerbetreibenden vor Ort den Versuch positiv bewertet, es aber auch viel Skepsis gibt.

"Wo autofreie Zonen entstehen, profitieren alle"

Positiv wird das Experiment, für das es an einem Oktober-Wochenende 2019 bereits einen Testlauf gab, von der Fußgänger- und Radfahrerlobby aufgenommen. "Dass Berlin mit dem Modellprojekt Platz umverteilen will, ist ein guter Anfang hin zur lebenswerten Stadt", sagt Lisa Feitsch vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC). "Von Helsinki bis Madrid zeigen Städte: Wo autofreie Zonen entstehen, profitieren alle." Ähnlich argumentiert Roland Stimpel vom Verein Fuss e.V.. "Wir sehen große Chancen für die wirtschaftliche Belebung der Friedrichstraße. Jeder Einzelhändler weiß: Je mehr Menschen entspannt vor seinem Laden gehen, desto größer ist sein Umsatz."

Der Verkehrsclub Deutschland stellt sich ebenfalls hinter das Projekt. "Ein Modellversuch wie die autofreie Friedrichstraße bietet die Chance zu erleben, was wir gewinnen, wenn Autos Platz machen für Fußgänger, Radfahrende und Erholungsflächen: weniger Verkehrslärm, weniger Abgase und mehr Aufenthaltsqualität", sagt Sprecherin Anne Fröhlich. "Es wäre wünschenswert, wenn durch diesen Modellversuch Ängste vor wirtschaftlichen Nachteilen von autofreien Straßen und Zonen etwas abgebaut würden."

In Berlin gibt es bereits vielfältige Initiativen, um von der autogerechten Stadt vergangener Jahrzehnte wegzukommen. Gerade in Corona-Zeiten entstanden zahlreiche, zumeist komfortabel breite Pop-up-Radwege - Provisorien, die nun größtenteils dauerhaft bleiben sollen. Andere Beispiele sind die temporäre Umwidmung von Straßen in Spielzonen oder Bemühungen um weitgehend autofreie Stadtteile wie den Wrangel-Kiez in Kreuzberg. (dpa)

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KOMMENTARE


Henry

22.08.2020 - 13:05 Uhr

Ja, das Auto ist doch nun wirklich obsolet. Der hippe, puttenhaft geschlechtslose, berliner Single braucht doch kein Auto mehr. Er hat irgendein Start-up, was etwas macht, was kein Mensch braucht, absolviert ein weiteres Praktikum oder ist gleich „Künstler“. Der Länderfinanzausgleich und andere sozialistische Eingriffe lassen solche Biotope nachgerade erblühen. Die andere, jetzt dort lebende (und von der Anzahl stark „prosperierende“) Kohorte wird sich ihren AMG oder Panamera eher nicht nehmen lassen. Nun, wir werden ja sehen, wie‘s ausgeht ... Man wird schon lange in der Geschichte suchen müssen, um Beispiele von sich wirtschaftlich selbst zerstörenden Gesellschaften (ideologisch verbrämt) zu finden, die glaubten, alles Produktive durch vom Staat geschaffene Laschierstellen ersetzen zu können. Allzu viele produktive Industrien haben wir ja nicht mehr im Land. Und in Berlin seit dem letzten Krieg gewiss nicht.


Daniel

23.08.2020 - 10:51 Uhr

Grüne Innenstädte, verkehrsberuhigte Zonen - eine Idee von Phantasten! Radfahrer dürfen sich benehmen wie die Axt im Wald, Elektro-Roller ...


Alex E.

24.08.2020 - 09:52 Uhr

@Henry: Ein wunderbarer Kommentar, der den Nagel auf den Kopf trifft. Spätestens, wenn sich das Berliner Modell über die Ländergrenzen hin ausweitet, wird es Zeit, auszuwandern. Fakt ist: In diesem Land wird es jedenfalls zusehends grotesker, und es schmerzt zu sehen, wohin dieses Land in den letzten 40 Jahren gekommen ist.


Rudi

24.08.2020 - 14:23 Uhr

Beruhigen Sie sich doch mal, es geht um eine gerade mal 500 m lange Straße, die vorübergehend testweise für 5 Monate ohne Autos auskommen soll. Wenn sich das Projekt als zukunftsfähig erweisen, wird Berlin dadurch doch nicht autounfreundlich. Und jede*r Autofahrer*in ist vermutlich die meiste Zeit eher zu Fuß als mit dem Auto unterwegs. Lasst es uns doch erstmal abwarten, wie sich das entwickelt, bevor wir von sozialistisch, autofeindlich, auswandern oder sonstigen Weltuntergangsszenarien schwafeln.


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