Von Benjamin Bessinger/SP-X
Erst die Bühnen von Paris und Genf und jetzt die Straßen von Berlin – auf dem Weg in die Zukunft das Automobils erhöht Mercedes das Tempo und vergrößert den Aktionsradius. Denn nachdem der Hoffnungsträger EQ bislang nur über die Messestände rollen durfte, hat er jetzt seine Jungfernfahrt im echten Leben absolviert. Na ja, beinahe zumindest.
Mit dem Rollout in einem Berliner Hinterhof hat Mercedes einmal mehr seine Absicht unterstrichen, Tesla & Co nicht mehr die Deutungshoheit für die Zukunft des Autos zu überlassen, sondern bei der elektrischen Revolution ein spätes aber dafür umso gewichtigeres Wort mitzureden. Dafür wollen die Schwaben das Schaustück aus Paris bis Ende nächsten Jahres zur Serienreife entwickeln und im Jahr 2019 in den Handel bringen.
An Form und Format soll sich bis dahin nicht mehr viel ändern. Der Tesla-Fighter aus Stuttgart wird ein SUV-Coupé wie der Audi E-tron und der Jaguar i-Pace und will sich von konventionellen Mercedes-Modellen unter andrem durch ein absolut naht- und fugenloses Design unterscheiden. Die Karosserie ist deshalb so glatt und bündig wie ein Smartphone und lebt mit dem Black Panell am Grill, der dunkel eingefärbten Haube und dem schwarzen Dach auf der einen sowie den in Alubeam lackierten Flanken auf der anderen Seite den gleichen Kontrast. Selbst der Mercedes-Stern wandert dafür als Lichtsignatur hinter Glas und auf Nebensächlichkeiten wie Spiegel oder Scheibenwischer wird gleich ganz verzichtet.
Das Smartphone stand auch Pate bei der Gestaltung des Innenraums. Bis auf die fast ikonisch verehrte Sitzverstellung in den Türen sucht man Schalter und Taster im Mercedes von morgen vergebens. Die Türen öffnet man mit Sensorfeldern, Musik, Ambiente und Klima regelt man mit einem Fingerzeug auf dem gebogenen Touchscreen zwischen den Sitzen und alle anderen Einstellungen nimmt man mit den beiden kleinen Touchpads am Lenkrad vor.
Subtile Licht-Botschaften
Während für die Eingabe die Berührung das Maß der Dinge ist, nutzt Mercedes als Ausgabemedium mehr denn je Beleuchtung. Zu den in Echtzeit und HD-Qualität erstellten 3D-Grafiken auf dem Widescreen-Display hinter dem Lenkrad und den Bildschirmen in den Rücklehnen der Vordersitze gibt es deshalb ein umlaufendes Lichtband unter der Fensterkante und LED-Punkte in den perforierten Türkonsolen, die subtile Botschaften etwa zum Fahrstil oder zum Ladezustand des Akkus übermitteln können.
Neben all dieser buchstäblich weitblickenden Technik wirkt der Antrieb fast schon gewöhnlich. Denn mit den 300 kW / 408 PS aus je einem Motor pro Achse und einem im Wagenboden installierten Lithium-Ionen-Akku für 500 Kilometer will der Mercedes von Morgen dort sein, wo Tesla & Co schon heute sind.
Ob das am Ende auch für die Preise gilt, wagt sich in Stuttgart noch keiner zu sagen. Denn bislang weiß keiner, wie sich die Kosten für die Akkus entwickeln werden, die mit Abstand der dickste Brocken in der EQ-Kalkulation sind. Allerdings gehen alle davon aus, dass die Energiedichte eher steigen und der Preis sinken wird und dass Mercedes deshalb im Zweifel das bessere Angebot machen kann. Zumindest aus dieser Perspektive könnte sich die lange Leitung der Schwaben deshalb buchstäblich auszahlen.