Von Peter Eck/sp-x
So höflich waren ein Mercedes und sein Fahrer wohl noch nie zu einem Passanten. Als dieser in der Dunkelheit unentschlossen am Straßenrand steht und mit der Überquerung zögert, hält unsere S-Klasse an und wirft aus ihren Scheinwerfern einen virtuellen Zebrastreifen auf die Fahrbahn. Der Fußgänger versteht den Hinweis und wechselt die Straßenseite. Wirkt irgendwie irreal, ist aber nur eine von vielen Möglichkeiten, die das künftige sogenannte "Digital Light" der Stern-Marke bieten wird. Dabei handelt es sich um eine ziemlich clevere neue Scheinwerfertechnologie, die nicht nur eine im Vergleich selbst zu modernen LED-Scheinwerfern nochmals verbesserte Lichtausbeute bietet. Vielleicht noch wichtiger sind die mit "Digital Light" verbundenen neuen Möglichkeiten, nicht nur im Bereich der Kommunikation mit der Umwelt, sondern auch bei der Fahrerassistenz.
"Denk- und machbar ist mit unserer Technologie einiges", erläutert Gunter Fischer, der für die Karosserieentwicklung Exterieur verantwortlich ist. Denn der Scheinwerfer ist technisch im Kern mit einem Beamer vergleichbar, wie man ihn für Präsentationen oder fürs Heimkino nutzt. So könnten zum Beispiel in engen Baustellen oder auf unübersichtlichen Wegen Lichtlinien als Wegmarkierungen eingespielt werden, an denen sich der Fahrer dann orientiert.
Oder der Spurhalteassistent wird aktiv unterstützt, in dem bei einer Annäherung des Fahrzeugs an den Fahrbahnrand Pfeile auf die Straße projiziert, die die nötige Lenkrichtungskorrektur anzeigen. Auch Straßenverkehrszeichen wie etwa das bekannte "Stopp"-Schild können bei Bedarf vor den Fahrer auf die Straße gebracht werden. Zudem wird es bei der Annäherung des Fahrers an sein parkendes Fahrzeug auch möglich sein, nützliche Informationen, etwa zur Außentemperatur oder zur Verkehrslage, über die Scheinwerfer etwa auf eine Garagenwand zu projizieren. Theoretisch ist es sogar möglich, über den Hochleistungsbeamer einen ganzen Film ablaufen zu lassen. Das wäre dann sozusagen das ganz private Autokino.
Präzise Ausleuchtung
Pro Scheinwerfer sorgt ein Chip mit über einer Million Mikrospiegeln für präzise Ausleuchtung, denn jeder dieser Spiegel entspricht im Lichtbild einem Pixel. Zum Vergleich: Eine der modernsten Scheinwerferlösungen derzeit bietet die Mercedes E-Klasse mit Multi-Beam – das System arbeitet mit gerade mal 84 Pixeln. Die neue Technik kommt aus den USA und wird von Texas Instruments angeboten. Die Lichtsteuerung wird aber letztlich von einer Software geleistet, die Mercedes selbst entwickelt.
Den Fortschritt erläutert Gunter Fischer anhand eines Beispiels: Beim aktuellen Multi-Beam-System mit 84 Pixeln deckt ein einzelner Pixel in 100 Metern Entfernung eine Fläche von 1,80 x 2,40 Metern ab. Dieser Bereich kann durch Ein- oder Ausschalten des Pixels also ausgeleuchtet oder ausgeblendet werden. Beim „Digital Light“ deckt ein Pixel in gleicher Entfernung eine Fläche von 4 x 2,5 Zentimetern ab. So können mehrere und zudem kleinere Objekte, wie etwa nur das Gesicht oder die Augen eines entgegenkommenden Fahrers, ausgeblendet werden. Im Prinzip will Mercedes so ein komplett blendfreies Dauerfernlicht ermöglichen. "Wir wollen die Fernlichtanteile bei Nachtfahrten von derzeit sieben bis zehn Prozent auf 65 Prozent hochfahren", verspricht Fischer.
Das LED-Licht wird bei diesem System auf die Spiegel geworfen. Durch eine Drehung jedes einzelnen Spiegels um 10 Grad wird das Licht nicht mehr durch den Projektor auf die Straße gelenkt, sondern in eine sogenannte "Lichtfalle", wo es sozusagen verschwindet. "Digital Light" schaltet aber nicht nur kleinste Lichtfelder ein oder aus, sondern kann diese auch unterschiedlich stark ausleuchten. Dies geschieht, indem jeder Spiegel einzeln angesteuert sich bis zu 5.000 Mal pro Sekunden zwischen den beiden Stellungen "an" und "aus/Lichtfalle" hin und her bewegt. Für das menschliche Auge wirkt dies dann wie ein abgedimmtes Licht. So könnte zum Beispiel das LED-Licht eine Fahrbahn ohne Gegenverkehr mittig voll ausleuchten, zum Rand hin aber stufenlos dunkler werden, etwa um Menschen und Tiere nicht zu blenden. Trotzdem würde der Fahrer Menschen, Tiere oder Gegenstände am Straßenrand noch wahrnehmen.
Funktionalitäten einfach "nachrüstbar"
Bis zu 60 Mal pro Sekunde wird die ideale Lichtverteilung errechnet. Dabei nutzt das System Daten aus allen zugänglichen Quellen, etwa von Sensoren, Kameras, Navidaten oder auch aus externen Quellen (Car-to-X, Car-to-Car). Ein weiterer Vorteil: Wenn die Hardware einmal eingebaut ist, können einzelne Funktionalitäten, neue oder verbesserte, per Software-Update mit wenig Aufwand "nachgerüstet" werden.
Im Prinzip arbeitet das System heute schon ziemlich perfekt, wie wir während einer Fahrt durchs nächtliche Stuttgart selbst überprüfen konnten. Nun muss das System noch Großserienfest gemacht werden, zudem stehen Verhandlungen mit dem Kraftfahrt Bundesamt an, "denn im Prinzip ist ein solch blendfreies Dauerfernlicht heute noch gar nicht zulassungsfähig", weiß Gunter Fischer. Wann das System erstmals geordert werden kann, darüber will sich Mercedes nicht auslassen. Wir schätzen aber, dass es beispielsweise mit der Einführung der nächsten Generation der S-Klasse (2019/2020) so weit sein könnte.
Als weniger aufwendige, günstigere und energiesparende Lösung hat Daimler im Verbund mit Osram, Hella, dem Fraunhofer Institut und Infinion aber noch eine weitere Lösung entwickelt. Hier werden in einem Scheinwerfer vier Chips mit je 1.024 Pixeln, mithin insgesamt 4.096 Pixel, zusammengefasst. Diese, bereits vor einigen Wochen vorgestellte Lösung wird sich schon in naher Zukunft für Modelle der Marke Mercedes ordern lassen. Mit diesem System lassen sich schon Dinge rund ums Licht realisieren, die mit dem aktuellen Multi-Beam nicht möglich sind. Wer aber das ganz große Kino will, der muss noch warten, bis "Digital Light" auf den Markt kommt.