Von Benjamin Bessinger/SP-X
Unter dem Lockdown hatten die letzten Monate alle zu leiden, erst recht in Großbritannien. Doch zumindest in der britischen PS-Branche hat wahrscheinlich niemand so sehr dem Neustart entgegengefiebert wie James Warner. Denn er ist bei McLaren der Projektleiter für den 620R und hatte ein besonders knappes Zeitmanagement: Weil die so genannte Sports Series zum Jahresende unweigerlich ausläuft, blieben ihm für das neue Top-Modell der – nun ja – Einstiegsbaureihe nur wenige Monate. Dabei war der Job kein leichter. Schließlich musste er einen Rennwagen für die Rundstrecke für den Einsatz auf der Straße umbauen und den 570S GT4 deshalb ins Korsett der Zulassungsvorschriften zwängen. Und zwar so, dass er seine Ambitionen nicht einbüßt und trotzdem einen Rest an Alltagstauglichkeit bietet – und dass er auch von Amateuren gefahren werden kann. Doch Warner hat es geschafft, und jetzt, wo die Produktion so langsam wieder anläuft, beginnt zu wenig bescheidenen Preisen von knapp 300.000 Euro aufwärts auch die Auslieferung.
Nicht nur optisch ein Rennwagen
Wer seinem örtlichen McLaren-Händler diese stolze Summe überweist, bekommt ein Coupé, das mit reichlich Flügelwerk an Bug und Heck, mit Nüstern in der Fronthaube und Hutze auf dem Dach und mit allerlei Sponsoren-Aufklebern nicht nur aussieht wie ein Rennwagen und entsprechend viele, bisweilen ein wenig irritierte Blicke fängt: Der 620R fährt auch so – zumindest ein bisschen.
Denn von nahezu aller Isolation und Dämpfung befreit, röhrt der Motor im Nacken des Fahrers noch rotziger und rauer, die Lenkung ist direkter und die manuell einstellbaren Dämpfer machen kaum mehr Kompromisse. Soll es die Knochen ruhig durchschütteln, Hauptsache das Coupé klebt auf der Straße. Und das tut es! Selbst ohne die eigens von Pirelli für Trackdays entwickelten Slicks entwickelt der McLaren eine beeindruckende Haftkraft und egal mit wie viel Biss der Fahrer zu Werke geht, lässt sich der 620R kaum aus der Reserve locken: Eisern hält er die Spur, stemmt sich gegen die Fliehkraft und lässt sich so an der kurzen Leine erstaunlich, nein eher erschreckend schnell die Ideallinie entlang führen.
McLaren 620R
BildergalerieTreibende Kraft ist der ebenso bekannte wie bewährte V8-Turbo, der im neuen Top-Modell mehr leistet als je zuvor in dieser Serie und sogar den GT4-Rennwagen überflügelt. Denn ohne Rücksicht auf die vom Reglement vorgeschriebene Balance of Power kitzeln die Briten jetzt 620 PS und ebenso viele Newtonmeter aus dem 3,8-Liter-Motor und erreichen damit Fahrleistungen, bei denen der Bleifußfraktion die Knie weich werden: Von null auf 100 km/h in 2,9 Sekunden und 8,1 Sekunden bis Tempo 200. Da muss man bei Ferrari oder Lamborghini schon weit oben einsteigen, wenn man da mithalten will – von Porsche ganz zu schweigen.
Vmax mit 322 km/h
Und dass der 620R mit seinen 322 km/h bei Vollgas einen Hauch langsamer ist als etwa der 600 LT lässt sich verschmerzen. Denn erstens erreicht man diese Geschwindigkeitsbereiche ohnehin fast nie, und zweitens macht man die verlorenen Sekundenbruchteile dem größeren Abtrieb sei Dank schon in zwei, drei Schikanen wieder gut. Denn so eindrucksvoll die Beschleunigung auf der Geraden auch sein mag, noch spektakulärer souverän verhält sich der McLaren in Kurven – egal ob auf Streckenabschnitten wie der Fuchsröhre und im Kesselchen auf dem Nürburgring oder auf einer Landstraße irgendwo im Nirgendwo. Und spätestens dann klagt auch keiner mehr über die sündhaft unbequemen Karbonschalen anstelle der herkömmlichen Sitze oder die vergrößerten Schaltpaddel hinter dem Lenkrad. Denn während der McLaren schier unbeirrt von allen Querkräften im Tiefflug durch Landschaft jagt, ist der Fahrer für festen Halt und guten Griff dankbar.
Zwar beginnt jetzt tatsächlich die Auslieferung und der 620R hat sich vor seinem Tiefflug über die Zielgerade am Ende weder von Paragraphen, noch von der Pandemie stoppen lassen. Doch so ganz unbeschadet ist das Modell fürs furiose Finale doch nicht durch den Lockdown gekommen: Weil Chief Ingenieur Warrner über drei Monate in der Produktion fehlen, werden jetzt nur 225 statt der ursprünglich geplanten 350 Exemplare gebaut. Reiche Raser sollten deshalb schon Gas geben – und sich schnell eines der letzten Autos sichern.