Vor 50 Jahren schrieb Elgin Gärtner-Amrhein deutsche Geschichte: Die Stuttgarter Rechtsanwältin wurde am 1. Juli 1961 als erste Frau in den Aufsichtsrat der Volkswagenwerk AG gewählt, wie Europas größter Autobauer damals hieß. Nicht nur, weil sie eine Frau war, galt sie im 18-köpfigen Aufsichtsrat als Exotin - während die jüngsten männlichen Aufsichtsräte die 50 bereits überschritten hatten, gehörte sie mit 30 Jahren zu einer anderen Generation. "Plötzlich saß ich als junge Frau zwischen älteren Männern", erinnert sich die heute 80-Jährige. Damit war sie in ganz Deutschland die erste Frau, die für die Kapitalseite in den Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft einzog. "Ich wusste erst gar nicht, dass ich vorgeschlagen war", erzählt Gärtner-Amrhein. Irgendwann erhielt sie einen Anruf, sie stünde auf mehreren Vorschlagslisten für das Gremium.
Die Juristin war unter anderem von der Interessengemeinschaft der VW-Aktionäre im Volkswagenwerk vorgeschlagen worden. Georg Kugland (88), damals im Vorstand der Gemeinschaft, erinnert sich: «Wir waren damals modern, wir wollten, dass eine Frau vertreten ist.» Immerhin seien knapp 25 Prozent der Aktionäre der Gemeinschaft weiblich gewesen. Aufmerksam wurde Kugland durch einen Regierungsbeamten auf die junge Anwältin. Sie hatte die Qualifikationen, die viele Frauen damals noch nicht für das Amt hatten. Erst ein Jahr zuvor hatte der Bundestag die Teilprivatisierung des früher volkseigenen Unternehmens VW beschlossen. Bund und Land verkauften 60 Prozent ihrer Anteile an der Börse - und der bis dahin eingesetzte Aufsichtsrat musste auf der ersten Aktionärsversammlung durch einen neuen gewählten ersetzt werden.
Bis zu 10.000 Aktionäre kamen am 1. Juli 1961 zur ersten VW-Hauptversammlung, die in einer Werkhalle stattfand. "Es heißt, Gartenstühle aus ganz Niedersachsen mussten ausgeliehen werden", sagt VW-Unternehmenshistoriker Manfred Grieger. Auch Elgin Gärtner-Amrhein hatte sich auf den Weg nach Wolfsburg gemacht. "Ich wollte mal sehen, wie so eine HV abläuft", sagt sie. Als Aktionärin hatte sie sich unter die Menge gemischt, nach sieben Stunden verließ sie die Halle als gewählte Aufsichtsrätin. Zwar war ihr klar, dass sie für das Gremium vorgeschlagen worden war, doch so recht gerechnet hatte sie mit ihrer Wahl nicht.
Die erste Sitzung des Aufsichtsrates war einige Wochen später in Köln. "Zunächst war ich etwas unsicher. Ich wurde da ja auch reingeworfen", räumt sie ein. Mit Fachkompetenz und Geduld eroberte sie sich dann jedoch ihren Platz. Nach den Sitzungen wurde sie zum Essen meist neben Heinrich Nordhoff, dem damaligen VW-Chef, platziert. "Mir wurde erzählt, der Umgangston habe sich nach meinen Einzug im Aufsichtsrat schon geändert", erzählte sie.
Genug qualifizierte Frauen für Vorstände und Aufsichtsräte
Elgin Gärtner-Amrhein wünscht sich, dass mehr Frauen am Finanz- und Wirtschaftsleben teilnehmen. "Ich wusste auch anfangs nicht, ob ich mich durchsetzen kann", sagt sie. "Frauen machen es nicht besser, aber anders als Männer. Frauen sind oft intuitiver und sozialer - auch bei Entscheidungen." Es gebe heute genug qualifizierte Frauen für Vorstände und Aufsichtsräte, betont die Juristin, die auch Mutter von drei Kindern ist.
Wenn vor 50 Jahren überhaupt eine Frau in einem Aufsichtsrat saß, dann auf der Arbeitnehmerseite. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Nach dem Ausscheiden der Stuttgarter Rechtsanwältin 1971 aus dem Gremium dauerte es auch bei VW 40 Jahre, bis mit der schwedischen Bankmanagerin Annika Falkengren in diesem Jahr erneut eine Frau die Interessen der Aktionäre bei Volkswagen vertritt. (dpa)
Foto von der VW-Hauptversammlung 1962: Frau Gärtner-Amrhein sitzt auf dem Podium rechts.
