Aktuelles Urteil: Arbeitszeiterfassung vs. Vertrauensarbeitszeit

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 14.05.2019 in der Rechtssache C-55/18 ist allgemein mit dem Überbegriff "Arbeitgeber müssen tägliche Arbeitszeit erfassen" zur Kenntnis genommen worden. Je nachdem, welchem Interessenlager die jeweiligen Kommentatoren des Urteils zuzurechnen sind, liegt ein "riesiger Schritt zurück in die Stechuhr-Mentalität" vor, verbunden mit der "Schaffung von unnötiger kostenintensiver Bürokratie", oder aber es wird der "Ausnutzung von Arbeitnehmern per Flatrate-Arbeit endlich ein Riegel vorgeschoben". Bundesarbeitsminister Heil (SPD) kündigte nach Bekanntwerden des Urteils umgehend an, dass er die Entscheidung der EuGH-Richter "modern, verlässlich und objektiv" umsetzen wolle und die vom EuGH gewährten Gestaltungsspielräume zu nutzen beabsichtige. Bundeswirtschaftsminister Altmaier (CDU) erklärte hingegen, sein Ressort werde erst einmal ein Rechtsgutachten in Auftrag geben, um zu klären, ob es für das Urteil angesichts bestehender deutscher Gesetze überhaupt einen Umsetzungsbedarf gebe. Angesichts der vollkommen differenten Sichtweisen stellt sich zuvorderst die Frage: Was ist Inhalt des EuGH-Urteils vom 14.05.2019, wen betrifft es und womit ist in Zukunft zu rechnen? Der Fall Im Juli 2017 erhob die spanische Gewerkschaft CCOO gegen die Deutsche Bank vor dem nationalen spanischen Gerichtshof eine Verbandsklage. Mit dieser Klage beantragte die Gewerkschaft die Feststellung, dass die Deutsche Bank gemäß den einschlägigen spanischen gesetzlichen Bestimmungen verpflichtet sei, ein System zur Erfassung der von den Bank-Mitarbeitern geleisteten täglichen Arbeitszeit einzurichten. Hierbei sollte dieses Erfassungssystem nach dem Klageantrag eine zweifache Überprüfung ermöglichen: zum einen die Einhaltung der vorgesehenen Arbeitszeit und zum anderen die Verpflichtung, die Gewerkschaftsvertreter über die monatlich geleisteten Überstunden zu unterrichten. Die CCOO vertrat in ihrer Klagebegründung die Auffassung, die Verpflichtung zur Einrichtung eines solchen Erfassungssystems ergebe sich aus der Auslegung der spanischen gesetzlichen Vorschriften im Abgleich zur EU-Grundrechte-Charta und den EU-Arbeitszeitrichtlinien. Die Bank vertrat naturgemäß die Auffassung, sie bewege sich mit ihrem Verhalten im Rahmen der Gesetze und der bis dahin ständigen Rechtsprechung des obersten spanischen Gerichts, des Tribunal Supremo. Tatsächlich waren für die Bankmitarbeiter nach Feststellungen des nationalen Gerichtshofs zwar einige Regularien zur Arbeitszeit vorhanden - sogar nationale Branchentarifverträge -, jedoch gab es kein betriebsinternes System zur Erfassung der Arbeitszeit und zur Kontrolle von Überstunden; es wurden nur ganztägige Fehlzeiten wie z. B. Urlaub festgehalten, jedoch nicht Anfang und Ende der täglichen Arbeitszeit. Weil es keine solchen Aufzeichnungen zur täglichen Arbeitszeit gab, war es auch nicht möglich, die Einhaltung der Mindestruhezeiten und die wöchentliche Höchstarbeitszeit zu gewährleisten. Gerade aber die Mindestruhezeiten und wöchentliche Höchstarbeitszeit - so der nationale spanische Gerichtshof - habe nach Europarecht Beachtung zu finden. Der nationale Gerichtshof legte deshalb die Frage, ob die Arbeitgeber verpflichtend die Arbeitszeit im Einzelnen zu erfassen hätten, dem EuGH zur Vorabentscheidung vor. EuGH-Urteil Um es vorwegzunehmen: Inhalt des EuGH-Urteils vom 14.05.2019 ist es nicht, dass jeder Unternehmer ab sofort all seinen Arbeitnehmern ein System der Zeiterfassung zur Verfügung stellen muss. Nach der zentralen Aussage im Urteil sind die europäischen Bestimmungen (Arbeitszeitrichtlinien und EU-Charta) lediglich dahin zu verstehen, "dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die nach ihrer Auslegung durch die nationalen Gerichte die Arbeitgeber nicht verpflichtet, ein System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann." Es obliegt nach der Diktion des EuGH also jedem einzelnen EU-Mitgliedstaat, die konkreten Modalitäten zur Umsetzung eines Zeiterfassungssystems festzulegen. Die Mitgliedstaaten sind jeweils selbst verantwortlich, wobei der EuGH im Rahmen dieser Eigenverantwortung Gestaltungsräume eröffnet. Zu berücksichtigen bei der Zeiterfassung sind nämlich - so der EuGH - "die Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereichs, sogar die Eigenheiten bestimmter Unternehmen, namentlich ihre Größe". Insgesamt ist also ein "konkretes Zeiterfassungssystem" durch den Gesetzgeber unter Berücksichtigung von Tätigkeits-, Unternehmens- und Brancheneigenheiten festzulegen. Angesichts einer offenkundig unterschiedlichen Lesart des EuGH-Urteils durch die regierungsverantwortlichen Politiker ist es nicht absehbar, wann und ob für tatsächlich alle Arbeitnehmer ein "konkretes Zeiterfassungssystem" gesetzlich umgesetzt wird. Bis zu einer solchen gesetzlichen Regelung verbleibt es bei der aktuell nach deutschem Recht durchzuführenden Arbeitszeiterfassung. Aktuelle Arbeitszeiterfassung nach deutschen Gesetzen Aus § 16 Abs. 3 Arbeitszeitgesetz (ArbZG) ergibt sich für die Arbeitgeber die Verpflichtung, die täglich über 8 Stunden hinausgehende Arbeitszeit aufzuzeichnen. Die Aufzeichnungspflicht gilt also für Überstunden und nicht für die "normale" Arbeitszeit von 8 Stunden täglich = 40 Stunden wöchentlich. Eine bestimmte Form der Aufzeichnung von Überstunden ist gesetzlich nicht vorgeschrieben. Nachweise können geführt werden durch Stundenzettel, Computererfassung, die altbewährte Stempeluhr, Arbeitszeitkarten oder handschriftlich geführte Listen. Der Arbeitgeber kann die Erfassung der Arbeitszeit nach § 16 Abs. 3 ArbZG an seine Mitarbeiter delegieren. Hierbei muss der Arbeitgeber allerdings sicherstellen, dass die von den Arbeitnehmern geführte Zeiterfassung für Kontrollzwecke der zuständigen Behörde zur Verfügung gestellt werden können. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, sich zumindest stichprobenweise davon zu überzeugen, dass die delegierte Zeiterfassung von den Arbeitnehmern ordnungsgemäß durchgeführt und aufbewahrt wird. Auf leitende Angestellte sind die Bestimmungen des Arbeitszeitgesetzes nicht anzuwenden. Darüber hinaus ergeben sich bekanntermaßen sehr ernst zu nehmende Pflichten zur Erfassung der Arbeitszeit nach dem Mindestlohngesetzes und dem Gesetz zur Bekämpfung von Schwarzarbeit. Aktuelle Arbeitszeiterfassung nach BAG Die Arbeitszeiterfassung ist daneben auch aus betriebsverfassungsrechtlicher Sicht verpflichtend. Voraussetzung ist naturgemäß, dass im Unternehmen ein Betriebsrat installiert ist. Der Betriebsrat ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) der "Hüter der Lohngerechtigkeit". Nach der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung definiert sich "Arbeit" als Austauschverhältnis mit der vereinfachten Formel "Zeit gegen Geld". Demgemäß hat der Betriebsrat hinsichtlich der Arbeitszeit eine Überwachungsaufgabe nach § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG und der Arbeitgeber muss dem Betriebsrat auf Anforderung die tatsächliche Arbeitszeit aller im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer zur Verfügung stellen (BAG vom 06.05.2003, Az. 1 ABR 13/02). Wie der Arbeitgeber dies bewerkstelligt, ist seine eigene Angelegenheit - ohne Zeiterfassungssystem wird ihm dies allerdings kaum gelingen. Ausblick Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es nach den vorstehenden Regelungen nach deutschem Recht bereits ein "System der Zeiterfassung" gibt. Die Frage ist allerdings, ob dieses System der Zeiterfassung den Anforderungen des EuGH-Urteils vom 14.05.2019 genügt. Wird es europaweit tatsächlich zur Abschaffung der Vertrauensarbeitszeit und zur flächendeckenden Wiedereinführung der Stempelzeit kommen? Dies darf deutlich bezweifelt werden - sowohl aus Arbeitnehmerinteresse wie auch zuvorderst naturgemäß aus Arbeitgeberinteresse. Für die Kfz-Branche hat das EuGH-Urteil zur Zeiterfassung weit weniger Relevanz als für viele andere Branchen. Dennoch sollte das EuGH-Urteil durchaus genutzt werden, um die Einhaltung der schon derzeit bestehenden gesetzlichen Regelungen zu überprüfen und gegebenenfalls eine Nachjustierung vorzunehmen. Mehr ist augenblicklich nicht verlangt. Kurzfassung 1. Nach dem Urteil des EuGH vom 14.05.2019 zur Rechtssache C-55/18 haben die EU-Mitgliedsstaaten ein System einzurichten, mit dem die von jedem Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann.2. Das EuGH-Urteil vom 14.05.2019 gilt nicht automatisch und ab sofort für alle Arbeitnehmer, vielmehr ist das Urteil in eigener Verantwortung der einzelnen EU-Mitgliedsstaaten durch den jeweiligen Gesetzgeber erst noch umzusetzen. Aufgrund der widerstreitenden Positionen in Politik und sonstigen Interessengruppen ist nicht vorauszusehen, wann und gegebenenfalls mit welchem Inhalt eine solche gesetzliche Umsetzung in Deutschland erfolgt.3. Aktuell sind zur Arbeitszeiterfassung die bereits vorhandenen deutschen Gesetze zu berücksichtigen, namentlich das Arbeitszeitgesetz mit der Verpflichtung zur Aufzeichnung von Überstunden sowie das Mindestlohngesetz und das Gesetz zur Bekämpfung von Schwarzarbeit. Zu berücksichtigen ist im Geltungsbereich des Betriebsverfassungsgesetzes die spezielle Befugnis eines Betriebsrats, vom Arbeitgeber die Zurverfügungstellung der tatsächlichen Arbeitszeit aller im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer zu verlangen.4. Das EuGH-Urteil hat für die Kfz-Branche wegen der überwiegend und ohnehin praktizierten Arbeitszeiterfassung weit weniger Relevanz als für viele andere Branchen. Das Urteil sollte dennoch für eine kritische Überprüfung der eigenen Systeme genutzt werden. Kommentar Das im vorliegenden Beitrag besprochene Urteil des EuGH vom 14.05.2019 hat naturgemäß insbesondere bei den Gewerkschaften und insgesamt im linken Spektrum Begeisterung hervorgerufen. Verständlicherweise. Schließlich wird aus dem Urteil das "Ende der Vertrauensarbeitszeit" und damit die Beendigung einer "Stundenausbeutung" von Arbeitnehmern abgeleitet. Diese Begeisterung ist sicherlich verfrüht. Die Vertrauensarbeitszeit liegt weder im Sterben, noch wird sie aufgrund des EuGH-Urteils nach hier vertretener Auffassung ihr Ende finden. Die Vertrauensarbeitszeit beinhaltet begrifflich im Übrigen nichts anderes, als dass die Festlegung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit den Arbeitnehmern überlassen ist und der Arbeitgeber darauf vertraut, dass die Arbeitnehmer ohne Überwachung ihre vertraglich geschuldete Arbeitsleistung erbringen. Allerdings ist es Tatsache, dass Arbeitnehmer in einer nicht zu unterschätzenden Anzahl Überstunden unter den Tisch fallen lassen und im Rahmen der Vertrauensarbeitszeit eine gewisse Selbstausbeutung betrieben wird. Jeder vernünftige Arbeitgeber wird hier allerdings zielführend entgegensteuern.Rechtsanwalt Rainer Bopp

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