Schon seit 2018 ist der Lkw-Notbremsassistent in der EU gesetzlich vorgeschrieben. Doch trotz Pflichtausstattung kommt es immer wieder zu schweren Unfällen am Stauende. Was sind die technischen Hintergründe dafür? Kann das Verhalten des Fahrers die Assistenten unbeabsichtigt in ihrer Wirkung beeinträchtigen? Diesen Fragen ist DEKRA für den Verkehrssicherheitsreport 2023 „Technik und Mensch“ nachgegangen. Auf dem Gelände des DEKRA Technology Centers am Lausitzring in Brandenburg wurden Fahrversuche mit drei Lkw verschiedener Hersteller durchgeführt. „Dabei zeigte sich, dass die getesteten Notbremsassistenten zwar gesetzeskonform sind, dass es jedoch noch erhebliches Optimierungspotenzial insbesondere bei der Systemauslegung gibt“, bilanziert Uwe Burckhardt, Leiter Test und Event am DEKRA Lausitzring.
Unfallszenario Stauende
Wenn es darum geht, die Verkehrssicherheit zu verbessern, spielen Fahrerassistenzsysteme auch im Lkw eine wichtige Rolle. Ein wichtiges Unfallszenario ist das Auffahren auf das Stauende. Vor allem unter Beteiligung schwerer Lkw kommt es hier immer wieder zu schwer verletzten und getöteten Insassen. Optimierungen im Bereich der Kompatibilität der Fahrzeugstrukturen können zwar bis zu einem gewissen Grad Abhilfe schaffen, mit zunehmender Geschwindigkeitsdifferenz sind aber schnell die physikalischen Grenzen erreicht. Denn angesichts der großen Massen schwerer Nutzfahrzeuge ist das Potenzial der passiven Sicherheit zur Minderung von Unfallfolgen begrenzt.
Nicht alle Lkw-Notbremsassistenten überzeugend
Effektive Verbesserungen sind daher vor allem durch aktive Sicherheitssysteme zu erzielen. Fahrerassistenzsysteme wie der Lkw-Notbremsassistent können Unfälle vermeiden oder die Unfallschwere verringern. Allerdings tun nicht alle Notbremsassistenten das so gut, wie es technisch möglich und wünschenswert wäre. Das ist das Ergebnis der Fahrversuche am DEKRA Lausitzring mit drei Sattelzugmaschinen verschiedener Hersteller. Die mit Messtechnik sowie Lenk- und Pedalaktuatoren ausgestatteten Lkw fuhren dabei jeweils mit einer Geschwindigkeit von 50 km/h geradlinig auf eine stehende Pkw-Attrappe zu – und zwar mit 100-prozentiger Überdeckung, also mittig auf das Heck des Targets.
Die Versuche wurden zunächst als Test des jeweiligen Systems ohne Eingriff des Fahrers gefahren, anschließend wurden verschiedene Fahrereingriffe mit unterschiedlich starkem Bremspedaldruck und Lenkeingriff simuliert. „Zur Reproduzierbarkeit wurden die Fahrereingriffe durch eine Robotik ausgelöst, sobald diese in der Kollisionswarnphase erkannte, dass der Notbremsassistent die Geschwindigkeit des Lkw bereits um 2 km/h reduziert hatte“, so DEKRA Experte Uwe Burckhardt zum Versuchsaufbau.
2 Lkw stehen, einer kracht mit 27 km/h aufs Auto
Bei den Fahrten ohne Eingriff des Fahrers zeigte sich, dass die Assistenzsysteme je nach Lkw-Hersteller hinsichtlich des Warn- und Bremsverhaltens sehr unterschiedlich ausgelegt sind. Die Lkw von Hersteller 1 und 3 kamen dabei vor dem Hindernis zum Stehen, bei Hersteller 1 betrug der Abstand zur Attrappe allerdings nur noch fünf Zentimeter, bei Hersteller 3 immerhin 2,6 Meter. Das im Lkw von Hersteller 2 verbaute System verzögerte das Fahrzeug zwar, konnte jedoch einen Zusammenstoß mit der Attrappe nicht verhindern. Immerhin wurde die Kollisionsgeschwindigkeit auf 27 km/h reduziert.
In den weiteren Simulationsfällen warnte und bremste der Lkw von Hersteller 1 verlässlich bis zum Stillstand ab und ließ sich auch durch Eingriffe des Fahrers nicht „aus der Ruhe bringen“. Beim Lkw von Hersteller 2 bewirkte der Fahrereingriff zumindest teilweise eine Verbesserung: Ein starker Bremseingriff reduzierte die Aufprallgeschwindigkeit auf 15 km/h und ein starker Lenkeingriff führte angesichts des Geschwindigkeitsabbaus durch den Notbremsassistenten wenigstens dazu, an der Pkw-Attrappe vorbeizufahren. Ein mäßiger Lenkeingriff hätte hierfür allerdings nicht ausgereicht.
Mindeststandard ist zu wenig
Das System erfüllt somit zwar gesetzliche Mindeststandards, kann Auffahrunfälle aber nicht zuverlässig verhindern. Das System des Lkws von Hersteller 3 warnte und bremste überwiegend zuverlässig. Allerdings führte schon ein mäßiger Bremseingriff durch den Fahrer dazu, dass sich der Notbremsassistent abschaltete und somit seine sicherheitsrelevante Funktion außer Kraft setzte. „Dieses für den Fahrer unerwartete Systemverhalten zeigt, dass die gesetzlich vorgeschriebene Übersteuerbarkeit je nach Auslegung eine erfolgreiche Unfallvermeidung verhindern kann“, mahnt Uwe Burckhardt an.
"Gesetzliche Anforderungen erhöhen!"
Fazit: Die verschiedenen getesteten Lkw-Notbremsassistenten sind zweifelsohne gesetzeskonform. Der Vergleich der Systemauslegungen verschiedener Hersteller und die teilweise Wirksamkeit einer manuellen zusätzlichen Bremsung zeigen allerdings, dass das technische Potenzial durch das bestehende Regelwerk nicht ausgeschöpft wird. Auch zeigten die Systeme teilweise erhebliche sicherheitsrelevante Wechselwirkungen je nach Fahrerverhalten. Wünschenswert wäre es daher, eine Vereinheitlichung der Systemauslegungen zu diskutieren. Darüber hinaus zeigten die Versuche von DEKRA, dass bei Abweichungen vom „Standard“ die Leistungsfähigkeit der Systeme deutlich sinkt. Daher sollten die Hersteller ihre für die Funktionsentwicklung nötigen Tests noch variabler gestalten und die Systeme in noch vielfältigeren Szenarien erproben.
„Für die Zukunft gilt es außerdem, die gesetzlichen Anforderungen so zu erhöhen, dass die Systeme in realen Verkehrssituationen noch zuverlässiger funktionieren“, fordert Jann Fehlauer, Geschäftsführer der DEKRA Automobil GmbH. Gemäß der Mindestanforderung in der aktuellen Vorschrift müssten die Systeme die Geschwindigkeit vor einem stehenden Hindernis um 20 km/h reduzieren. „Wenn der Lkw also 80 km/h fährt, würde er noch mit 60 km/h aufprallen, was immer noch verheerende Unfallfolgen bedeutet“, so Jann Fehlauer.
"FAS-Abschaltbarkeit deutlich beschränken!"
Auf UN-Ebene sind schon neue, schärfere Mindestanforderungen für die Zukunft formuliert und beschlossen: Das maximale Kollisionstempo darf 42 km/h betragen – das bedeutet einen stärkeren Mindest-Bremseingriff als bisher vorgeschrieben. Die Abschaltbarkeit wird deutlich eingeschränkt, die Systeme müssen sich selbst automatisch wieder aktivieren. Zudem müssen die Systeme auch im städtischen Umfeld funktionieren und Fußgänger erkennen. Diese Regelungen sollen für neu entwickelte Fahrzeugtypen ab September 2025 und für alle neu zugelassenen Lkw ab September 2028 gelten. Nach Ansicht des DEKRA Geschäftsführers könnten diese Regelungen aus Sicht der Verkehrssicherheit noch ambitionierter sein. „Sie sind aber ganz klar ein Schritt in die richtige Richtung und müssen jetzt zügig in geltendes EU-Recht umgesetzt werden.“ (fi/wkp)