Auf ihrem jährlichen Autotag unter dem Leitmotto "Groß gegen klein" im Allianz Zentrum für Technik sprach sich der Münchner Versicherer für einen verbesserten Schutz von Fußgängern und Zweiradfahrern in Städten aus und richtete konkrete Forderungen an Politik, Fahrzeughersteller und Transportunternehmen.
Angesichts weiterhin zu hoher Zahlen von Verkehrstoten in Europa rief Allianz SE Vorstand Klaus-Peter Röhler dazu auf, insbesondere die Sicherheitsausstattung von Kleintransportern und Lkw zu verbessern: "Wir erleben rasante Fortschritte in nahezu allen Bereichen der Technologie, also warum gelingt es uns nicht, das Leben auf unseren Straßen besser zu schützen? Diese Entwicklung ist inakzeptabel. Ein Drittel aller Unfälle zwischen Lkw und Fußgängern oder zwischen Lkw und Radfahrern könnte vermieden werden, wenn Lkw nur zwei bekannte Sicherheitsmaßnahmen nutzen würden. Um die genannten Herausforderungen und Trends anzugehen, sind Fahrzeughersteller, Politiker, Transportunternehmen und wir als Versicherer gefordert, aktiv zu werden. Wir müssen alles tun, um Menschenleben vor einem Unfalltod zu schützen, ganz gleich, welche Kosten damit verbunden sind."
Null Verkehrstote bis 2050 derzeit eher utopisch
Röhler betonte, dass die Zahl der Verkehrstoten innerhalb der Europäischen Union mit rund 20.400 im Jahr 2023 noch immer deutlich zu hoch sei. Auch sei man von der "Vision-Zero"-Zielstellung der EU-Kommission bis 2050 noch weit entfernt. Um im Zielkorridor zu liegen, hätte die Zahl der Opfer bei einem linearen Verlauf von 2022 auf 2023 um 18 Prozent sinken müssen. Erreicht wurde europaweit allerdings lediglich ein 1-Prozent-Rückgang – und in Deutschland stieg die Zahl zuletzt sogar um 1,8 Prozent auf 2.839 Getötete im Jahr 2023.
Städte als Unfall-Hotspots
Für schnelle Erfolge sei es sinnvoll, den Blick auf den Stadtverkehr zu richten: "Städte sind Unfall-Hotspots", sagt Röhler. "Rund 40 Prozent der tödlichen Verkehrsunfälle in Europa ereignen sich in Städten; 70 Prozent dieser Opfer sind Radfahrer, Nutzer anderer Zweiräder oder Fußgänger, darunter Kinder und ältere Menschen – sie benötigen besseren Schutz! Der Titel dieses 12. Allianz Autotags – ‚Groß gegen Klein‘ – klingt bitter, aber er ist wahr. Es geht darum, die schwächsten Verkehrsteilnehmer vor schweren Fahrzeugen zu schützen."
Lieferverkehr als Gefahrpotenzial erkannt
Vor allem Fahrzeuge von Paket- und Lieferdiensten sind nach einer aktuellen Auswertung des Allianz Zentrum für Technik (AZT) auffällig. Als Flottenversicherer habe die Allianz herausgefunden, dass Kleintransporter, die von Zustelldiensten genutzt werden, eine etwa 20 Prozent höhere Schadenhäufigkeit als herkömmliche Fahrzeuge haben und auch häufiger Personenschäden verursachen. Dazu tragen laut Röhler der Zeitdruck der Fahrer, die vielen Stopps, Manöver im städtischen Umfeld und die Ablenkung durch die für die Zustellung erforderlichen digitalen Geräte bei.
Kleintransporter hinken bei der Sicherheit hinterher
Röhler kritisierte, dass Kleintransporter trotz der EU-Richtlinie "General Safety Regulation 2" (GSR2), die seit Juli 2024 für Neufahrzeuge gilt, aktuell noch nicht die gleiche Anzahl von Sicherheitssystemen an Bord haben wie Pkw. Nach seinem Dafürhalten sollten Vans deshalb "mindestens die gleichen Sicherheitssysteme wie neue Pkw haben, da sie die gleichen, stark frequentierten städtischen Straßen nutzen".
"Ein Drittel der Unfälle vermeidbar"
Für schwere Lkw und Busse müsse die GSR2 ebenfalls so bald wie möglich nachgebessert werden. Zwar seien einige warnende Fahrerassistenzsysteme für neu zugelassene Lkw mittlerweile verpflichtend, diese genügten aber nicht, um beispielsweise Kollisionen mit Fahrradfahrern und Fußgängern im toten Winkel verlässlich zu vermeiden. "Warnende Systeme reichen nicht aus", sagte Röhler auf dem Allianz Autotag und forderte stattdessen "effektive Systeme, welche Verkehrsteilnehmer im toten Winkel erkennen und sofort eine Notbremsung auslösen können".
Eine ergänzende AZT-Untersuchung kam aktuell zu dem Ergebnis, dass durch einen aktiv bremsenden Abbiegeassistenten sowie durch eine verbesserte Sicht von Lkw-Fahrern mittels sogenannter Manövrierfenster und einer niedriger gezogenen Sichtlinie der Fahrerkabine ein Drittel der Unfälle zwischen Lkw und Fußgängern oder Fahrradfahrern vermeidbar wäre. Diese technischen Lösungen seien bereits am Markt erhältlich – "jetzt müssen sie schnellstmöglich flächendeckend auch eingesetzt werden".
"Sichere Flotte rettet Menschen und hat günstige Prämien"
In erster Linie gehe es bei den Bemühungen der Allianz für mehr Sicherheit im Straßenverkehr "darum, Leben zu retten und Leid zu mindern", so Röhler. Ohne diese Grundüberzeugung zu schmälern, träfe ein weiteres Argument zu: "Die Vermeidung von Unfällen – auch von leichten Unfällen ohne Personenschaden – bringt einen wirtschaftlichen Vorteil für Spediteure. Das ist ein Selbstanreiz, denn eine Flotte mit weniger Reparatur- und Ausfallkosten ist effizienter, und selbst die Versicherungsprämien für eine solche Flotte sind deutlich niedriger als für eine Flotte mit vielen Unfällen."
Die Allianz knüpfte auch bei ihrem kürzlichen Autotag an eine schon jahrzehntelange Tradition an, um sich auch dieses Mal wieder mit konkreten Forderungen an Politik und Fahrzeughersteller zu wenden. Schon vor 40 Jahren habe sich beispielsweise der damalige Leiter des Allianz Zentrums für Technik, Unfallforscher Max Danner, für die seinerzeit noch umstrittene Gurtpflichtg stark gemacht. Legendär auch sein 1983 erschienenes Buch "Gurt oder Tod!", in dem Danner nachhaltig für die Anschnallpflicht geworben hatte. In der Überzeugung von Klaus-Peter Röhler bedeute das sinngemäß für das aktuelle Verkehrsgeschehen: "Zusätzlich zu ‚Gurt oder Tod!‘ gilt heute auch: ‚Assistenzsysteme – oder Tod!‘ Um die Vision Zero zu erreichen, brauchen wir sozusagen ‚einen neuen Sicherheitsgurt‘!"
Die konkreten Forderungen der Allianz
Auf dem 12. Allianz Autotag richtete Röhler für die Allianz drei konkrete Forderungen an die Automobilhersteller und den Gesetzgeber, um ungeschützte Gruppen im Stadtverkehr besser zu schützen.
1. Die Sicherheitsausstattung von Kleintransportern und Lkw muss über den aktuellen gesetzlichen Standard hinausgehen. Kleintransporter sollten mindestens über die gleichen Sicherheitssysteme wie Pkw verfügen, da sie die gleichen, stark frequentierten städtischen Straßen nutzen. Lkw-Hersteller sollten bereits verfügbare Innovationen, die zur Unfallverhütung beitragen, vollumfänglich nutzen. Dazu zählen Manövrierfenster, niedrigere Fahrerkabinen und automatische Notbremssysteme beim Abbiegen.
2. Die Allianz fordert die EU-Gesetzgeber auf, die aktuellen Vorschriften weiter zu verbessern. Speziell für Lkw sollten aktiv eingreifende Fahrerassistenzsysteme, die Abbiegeunfälle verhindern, so schnell wie möglich in allen neuen Lkw Pflicht werden. Warnende Systeme, wie derzeit gesetzlich vorgeschrieben, reichen nicht aus. Es sollten aktiv bremsende Systeme vorgeschrieben werden, die Verkehrsteilnehmer im toten Winkel erkennen und sofort eine Notbremsung auslösen. Und diese Systeme müssen immer eingeschaltet sein.
3. Wir brauchen einen umfassenden Datenaustausch, wie er im EU Data Act vorgesehen ist: Wenn die Allianz als Versicherer weiß, welche Sicherheitssysteme in Lkw und Kleintransportern installiert und aktiviert sind, kann sie risikobasierte Tarife und Anreize festlegen.