Von Benjamin Bessinger/SP-X
Eigentlich ist es nicht viel mehr als eine alberne Spielerei. Doch zugleich auch eine sehr vornehme Kampfansage. Denn dass nun auch über dem Kühler des neuen Bentley Flying Spur eine Skulptur thront, die man obendrein noch auf Knopfdruck elektrisch versenken kann, macht den Anspruch deutlich, mit dem die Briten Anfang 2020 zu Preisen ab knapp 215.000 Euro ihre neue Luxuslimousine an den Start bringen. Nicht Audi A8, BMW 7er oder Mercedes S-Klasse heißen die Wettbewerber. Sondern, wenn es überhaupt ein Auto gibt, das mit der angeblich "besten Limousine der Welt" konkurrieren kann, dann ist es allenfalls ein Rolls-Royce. Und zumindest was Glanz und Gloria angeht, hat die einstige Schwestermarke mittlerweile gleichgezogen: Der Kühlergrill ist nicht minder protzig, vom stattlichen Format der Limousine ganz zu schweigen. Und jetzt, wo auch noch ein von unten beleuchtetes und mit Flügeln verziertes “B“ im Wind steht, ist auch die "Spirit of Ecstasy" nicht mehr konkurrenzlos.
Allein an diesem "Flying B" hat Bentley zwei Jahre gestaltet und entwickelt – aber ein neues Flaggschiff leistet man sich ja auch nicht alle Tage. Der letzte Flying Spur ist schon biblische 14 Jahre her. Und weil der ohnehin nur noch in homöopathischen Stückzahlen gebaute Mulsanne so langsam aufs Altenteil fährt, wird der Flying Spur tatsächlich bald an die Spitze rücken. Und zwar nicht nur für Bentley, sondern für den gesamten VW-Konzern. Denn auch wenn sich die Luxuslimousine die Plattform mit Audi A8 und Porsche Panamera teilt, tritt sie doch mindestens eine Klasse darüber an. Das gilt nicht nur für selbstbewussten Auftritt des Dickschiffs mit dem riesigen Grill und den LED-Scheinwerfern in Kristallglasoptik und seinem Format von stattlichen 5,30 Metern. Sondern auch für den Preis, der sich mit ein paar Extras ganz locker über 300.000 Euro treiben lässt. Erst recht, wenn die auf besonders teure Extrawürste spezialisierten Kunsthandwerker von Mulliner ihre Finger im Spiel haben.
Bentley Flying Spur (2020)
BildergalerieTechnisch eng mit Continental GT und Cabrio verwandt, haben die Entwickler diesmal den Focus deutlich verschoben und buchstäblich etwas mehr Rücksicht bewiesen. Denn während der Fond bei den Zweitürern allenfalls eine bessere Garderobe ist, sitzen im Flying Spur die Hauptdarsteller meistens hinten. Deshalb gibt es bei 3,20 Metern Radstand nicht nur ein üppiges Maß an Beinfreiheit und klimatisierte Massage-Sitze mit großen, elektrischen Verstellwegen. Eigens für die Hinterbänkler hat Bentley auch ein neues Infotainmentsystem entwickelt – exklusive Tablets und eine Fernbedienung im Smartphone-Style inklusive.
Doch so feudal man sich im Fond chauffieren lassen kann, so wolkenweich einen die Luftfeder auch bettet und so weit man hinter dem Isolierglas der Welt entrückt, so laut hört man den Lockruf der Leistung, der einen unweigerlich hinter das Lenkrad zieht. Schließlich steckt unter der Haube ein Zwölfzylinder von mächtigen sechs Litern Hubraum und imposanten 635 PS. Die überlässt man nicht gerne einem Chauffeur, sondern macht sie viel lieber zur Chefsache. Und auch das Ambiente mit dem ebenso speziellen wie spektakulären Kontrast aus Hightech und Handwerkskunst hat seinen Reiz.
Leichter zu handhaben als früher
Wer dem erliegt, der macht die überraschend Entdeckung, dass der neue Flying Spur viel leichter zu handhaben ist als früher. War die Fahrt mit dem Vorgänger aller Leistung zum Trotz bisweilen echte Arbeit, ist der neue immer und überall ein Vergnügen. Denn diesmal ist es nicht nur der Motor, der die Grenzen der Physik mit seinen 900 Nm verschiebt. Wie sonst sollte er den 2,5-Tonner binnen 3,8 Sekunden auf Tempo 100 wuchten und danach bei Vollgas mit 333 km/h selbst vielen ernsthaften Sportwagen davonfahren?
Bei der neuen Generation rüttelt auch das Fahrwerk an den Grundfesten der Naturwissenschaften. Die Dreikammer-Luftfeder beherrscht sowohl eine wolkenweiche Komfort-Einstellung als auch die kompromisslose Härte eiliger Selbstfahrer, die 48-Volt-Steller an den Federbeinen lassen den Flying Spur aufrecht und ohne Wanken auch durch enge Kurven gleiten und die erstmals bei Bentley verbaute Allradlenkung lässt das Auto auf ein gefühlt eher handliches Format schrumpfen. Egal ob enges Parkhaus, verwinkelte Altstadt oder kurvige Passstraße – man fährt den Flying Spur fast mit dem kleinen Finger und wähnt sich eher in einer Mittelklasse-Limousine als in einem Luxusliner Marke XXL.
So faszinierend das bei der ersten Ausfahrt auch sein mag, so frustrierend ist es für die Kunden. Denn selten hat ihnen Bentley die Entscheidung zwischen vorne links und hinten rechts so schwergemacht wie bei diesem Auto.
hubertkrischer