Markus Volmer hat ein Problem. Und zwar eines, dass ihm so in seiner langen Laufbahn noch nicht untergekommen ist. Dass dem Fahrwerk seines jüngsten Projekts noch der letzte Schliff fehlt, die Karosserie bisweilen knirscht, die Designer ständig irgendeine Kleinigkeit ändern wollen und hin und wieder die Software hängt, damit kann der Ingenieur gut leben. Schließlich hat er schon für Daimler Trucks entwickelt und zuletzt für Borgward das vermeintliche Comeback-Auto XB7 auf die Räder gestellt. Aber mit der Frage, wo er genügend Moos herbekommen soll, damit musste sich Volmer noch nicht beschäftigen.
Doch jetzt ist das eines von vielen Problemen auf seinem langen Zettel. Und so langsam drängt die Zeit bei deren Lösung. Denn mittlerweile verantwortet er für das Münchner Start-Up Sono Motors die Entwicklung des Sion. Und der will ab 2023 eben nicht nur als bescheidenes Elektroauto mit photovoltaischer Karosserie die Sonne anzapfen und so von überteuerten und überdimensionierten Stromern dominierten Markt von unten aufrollen und auch Laternenparkern Zugang zur E-Mobilität verschaffen. Zum ersten Mal in einem Serienfahrzeug soll Moos die Luft reinigen und wird dafür zum Ausdruck der grünen Gesinnung hübsch hinter Glas mitten im Cockpit inszeniert.
Doch nicht nur der Entwicklungschef muss sich um Moos-Beschaffung kümmern. Mehr noch brennt dieses Problem Laurin Hahn und Jona Christians unter den Nägeln. Die beiden haben das Start-Up vor fünf Jahren in einer Münchner Garage gegründet und mittlerweile lernen müssen, dass ohne "Moos" mit dem Sion nichts los ist. Immer wieder standen sie kurz vor der Pleite, mussten neue Investoren oder Partner suchen und Millionen auftreiben, um nicht den Weg zu gehen, den so viele Start-Ups vor ihnen gegangen sind. Und selbst wenn man dabei zuerst an Wackelkandidaten wie Faraday Future, Byton oder Nio denkt, ist das beileibe kein Phänomen der chinesischen Newcomer. Mit Hotzenblitz, Ego oder Mindset sind auch aus unserem Kulturkreis schon einige Start-Ups auf der Strecke geblieben.
Doch bislang haben es Hahn und Christians immer wieder geschafft, haben mittlerweile ein halbes Dutzend halbwegs finanzstarker Investoren und im letzten Jahr über eine Crowdfunding-Kampagne rund 50 Millionen Euro eingesammelt. Und anders als Tesla & Co wollen sie nicht nur Autos verkaufen, sondern ähnlich wie etwa Rimac am anderen Ende der Skala, auch ihre Technologie zu Geld machen: Weil Solarzellen etwa auf Lastwagen und Aufliegern noch sinnvoller eingesetzt werden können, haben sie gerade eine Kooperation mit MAN bekannt gegeben und sind mit weiteren Unternehmen im Gespräch.
Sono Motors Sion (Prototyp)
BildergalerieNoch lange nicht am Ziel
Zwar sind Hahn und Christians noch lange nicht am Ziel und müssen nochmal knapp zwei Jahre durchhalten, bevor im ehemaligen Saab-Werk in Trollhättan die ersten von bis zu 43.000 Autos im Jahr vom Band laufen und jedes Mal fast bescheidene 25.500 Euro in die Kasse der Gründer spülen. Doch eine große Hürde hat die auf mittlerweile 150 Mitarbeiter angewachsene Firma gerade erst wieder genommen. Seit dem Jahreswechsel gibt es einen neuen Prototypen, der dem Serienauto einen großen Schritt näher sein soll: Ein außen zur Maximierung der solaren Nutzfläche eher schlichter, dafür innen aber hübsch geräumiger Schuhkarton auf Rädern, der bequem vier und zur Not auch mal fünf Personen transportiert und mehr als ein Jahr vor dem Serienstart schon relativ reif und robust über die Teststrecke rollt, dank der hohen Sitzposition eine gute Übersicht bietet und mit einem kleinen Wendekreis angenehm handlich wirkt.
Dabei will der mit 4,47 Metern Länge und einem Kofferraum von stattlichen 650 Litern selbstbewusst in die Kompaktklasse platzierte Sion anders als ähnlich große Elektroautos wie der VW ID.3 oder Mercedes EQA nicht mit Fahrleistungen punkten, wie man sie noch aus der Verbrennerwelt kennt. Volmer beschränkt sich auf das Nötige: Mit dem 120 kW / 163 PS-Motor an der Vorderachse beschleunigt der Sion in etwa neun Sekunden auf Tempo 100 und erreicht maximal 140 km/h. "Das reicht für die Stadt und das Umland, wo die meisten Elektroautos zu Hause sind", sagt Volmer. Nur bei der Batterie haben sich die Macher eines Besseren belehren lassen: Statt wie bislang 35 wollen sie nun 54 kWh einbauen und den Aktionsradius so von 255 auf 305 Kilometer steigern, um Umsteigern die Reichweitenangst zu nehmen. Und weil die Sonne alleine bei uns nicht zum Laden reicht, gibt's natürlich auch einen Anschluss für die Steckdose, über den bis zu 75 kW fließen.
Was neben dem Fahren auch schon funktioniert, das sind die knapp 250 Solarzellen, die sie in die Hauben, ins Dach und die Flanken des Sion eingelassen haben. In den großen Bauteilen der Kunststoffkarossiere integriert und so geschaltet, dass auch ein Kratzer oder eine Kollision den Prozess nicht stört, liefern sie Meter für Meter Strom, sagt Volmer und zeigt stolz auf den Monitor, auf dem man die Ladeleistung für jedes Solarfeld in Echtzeit ablesen kann.
Branchenprofi führt operatives Geschäft
"Pro Tag kommen so bis zu 35 und im Schnitt 16 Kilometer zusammen", sagt Thomas Hausch, der sein Handwerk in der alten Welt bei Firmen wie Daimler und Nissan gelernt hat und nun operative Geschäft des Start-ups führt: "Im Jahr sind das fast 6.000 Kilometer. Und zwar nicht in Spanien oder auf Sizilien, sondern in einer Stadt wie München." Angesichts einer durchschnittlichen Jahresfahrleistung von weniger als 15.000 Kilometern kann die Sonne so auch in unseren Breiten tatsächlich einen nennenswerten Anteil der Energie liefern, ist Hausch überzeugt.
Mit einem Elektroauto, das jeder bezahlen und auch Laden kann, ist es für die beiden Gründer aber nicht getan. Mit ihrem Gemeinsinn wollen beide obendrein die Anzahl der Fahrten und zugleich den unnötigen Stillstand minimieren. Deshalb haben sie zum Auto eine App entwickelt, die Mitfahrgelegenheiten vermittelt und den Sion fürs private Carsharing öffnet. Und selbst wenn er steht, leistet er seinen Beitrag zum Klimaschutz: Der Sion ist eines der wenigen Elektroautos mit einem bidirektional gepolten Akku. Der kann – von der Sono Motors-App gesteuert – seinen Strom auch wieder an externe Geräte abgeben. Egal, ob der Fahrer nur sein E-Bike laden oder die Energie an den Nachbarn verkaufen will.
Dass Hahn und Christians schon so weit gekommen sind, verdanken sie nicht nur ihrem Charisma, dem Charme ihres Autos und den großen Investoren, sondern auch der Community, wie sie ihre Gefolgschaft neudeutsch nennen. Die sehen für die Zukunft des Sion zwar buchstäblich schwarz – zumindest was den Lack angeht, dessen Farbe in einer Online-Abstimmung festgelegt wurde. Sie sind ansonsten aber rundweg optimistisch eingestellt. Weshalb sonst sollten etwa die mittlerweile 13.000 Vorbesteller statt der geforderten 500 im Schnitt 3.000 Euro Anzahlung geleistet haben.
Das ist eine Zahl, die auch Entwicklungschef Volmer gerne hören dürfte. Mit so viel Moos, ist sicher erstmal wieder einiges los – auch hinter der Glasblende im Cockpit.
FrankF