Der Countdown läuft. In wenigen Wochen wird Mercedes einen Teil der Automobilgeschichte neu schreiben. Als weltweit erster Hersteller erfüllen die Schwaben "die Anforderungen nach UN-R 157 für ein Level-3-System", also die gesetzlichen Auflagen für hochautomatisiertes Fahren, bei dem Autos die Verantwortung übertragen wird. Die Freigabe gilt zunächst für Deutschland und für einige Staaten der USA, wie Kalifornien, Nevada, Florida oder dem Staat New York. Dort, wo die rechtlichen Grundlagen gegeben sind.
Was sich so technokratisch anhört, bedeutet in der Praxis nichts anderes, als dass Fahrer im Stau auf der Autobahn die Hände vom Steuer nehmen dürfen. Zu bestellen ist das System mit dem Namen "Drive Pilot" ab Anfang Mai für die S-Klasse und die vollelektrische Luxuslimousine EQS. Ausgeliefert werden sollen die ersten Fahrzeuge Mitte des Jahres.
Der Weg bis zu diesem Punkt, den Mercedes Entwicklungschef Markus Schäfer jüngst als "einen Paradigmenwechsel wie die Mondlandung" bezeichnet hat, war lang und oftmals steinig. Obwohl das System die Sensorik aller Assistenzsysteme nutzt, die bei Mercedes ohnehin schon vorhanden sind, ergänzt um einen von Valeo zugelieferten und im Kühlergrill platzierten Laserscanner namens Lidar, war die Abstimmung aller Komponenten ein Husarenritt durch ein bislang weitgehend fremdes Land. Die Verbindung aller Komponenten, der zig Kameras, der Armada von Technik, den üppig montierten Sensoren und die Verarbeitung aller einfließenden Daten erfordert ein Höchstmaß an Komplexitäts-Management. Das System gleicht 300-mal mehr Infos ab als in einem mit 4K gestreamten Film auf Netflix vorhanden sind. Weil die Verantwortung beim Level-3–System komplett auf das Fahrzeug übergeht, dürfen keine Fehler passieren. Es ging für die Techniker darum, so viele Blind Spots - also tote Winkel - wie irgend möglich rund um das Auto zu eliminieren.
Herkulesaufgabe auf dem Wege zur Serienreife
Alle Möglichkeiten, Zufälle und Szenarien da draußen mit einzukalkulieren, war auf dem Wege zur Serienreife eine Herkulesaufgabe. Dabei stand die Sicherheit der Insassen bei der Entwicklung unter allen Umständen immer an oberster Stelle. Deshalb ist der Drive Pilot auch eher defensiv ausgelegt und funktioniert nur unter bestimmten Bedingungen. Nur auf Autobahnen und nur bis 60 km/h.
Es werden keine Spurwechsel getätigt, die Temperatur muss über vier Grad liegen, die Sicht muss gut sein. Also Tageslicht, keine Dämmerung, keine Tunnel, kein Regen oder Schneefall. Tage wie diese, kommen in der norddeutschen Tiefebene eher selten vor. Es wundert also nicht, dass Schäfer den Drive Pilot eher auf den Highways der Mega-Citys wie der Welt-Stau-Hauptstadt Los Angeles optimal aufgehoben sieht. Städte, wo die klimatischen Verhältnisse meist gut und die Highways proppevoll sind. "In LA möchtest du, dass jemand das Steuer übernimmt" so Schäfer, "wir geben den Autofahrern mit dem Drive Pilot Zeit zurück, die sie sinnvoll nutzen können."
Fahrer muss jederzeit Steuer wieder übernehmen können
Was nicht bedeutet, dass der Fahrer nach der Übergabe ans Fahrzeug im Auto rumhampeln, oder sich ein Schläfchen gönnen kann. Er muss stets bereit sein, das Steuer innerhalb von Sekunden wieder zu übernehmen. Tricksen geht nicht. Kameras am Cockpit überwachen streng jede Kopfbewegung und müde Augenlider. So bleibt am Ende eine recht unspektakuläre, autonome Alleinfahrt, die sich im Prinzip nicht viel anders darstellt, als der schon bekannte Staupilot. Immerhin gibt sie dem Fahrer die Möglichkeit, mal für einen Moment abzuschalten, Mails zu checken oder eine Zeitung zu lesen. Alles in der Gewissheit, dass der Drive Pilot währenddessen die Sache im Griff hat, 400 mögliche Szenarien abgleicht und die jeweils sicherste Entscheidung trifft. Elektronische Devices wie Handys, Laptops oder Tablets dürfen während dieser Phasen in Deutschland vom Fahrer benutzt werden, in den USA noch nicht.
Wer sich diese kleine Freiheit gönnen möchte, muss einen mittleren vierstelligen Betrag investieren. Fünf- bis sechstausend Euro werden es schon sein. Genaue Preise will Mercedes Anfang April nennen. Derweil vertrösten die Stuttgarter auch weiterhin alle, die auf komplett autonome Fahrzeuge nach Level 4 warten. Mit der Serienreife rechnen die Techniker nicht mehr in diesem Jahrzehnt.