Autohersteller im Rhein-Main-Gebiet? Klar, da denkt jeder zuallererst an Opel in Rüsselsheim und wer sich ein bisschen besser auskennt vielleicht noch an das europäische Entwicklungszentrum von Hyundai und Kia am gleichen Ort. Doch in deren Schatten hat sich mittlerweile ein drittes Kompetenzzentrum etabliert, das zunehmend ein Einfluss gewinnt: Das Lotus Tech Innovation Center in Raunheim.
Konnte sich der englische Dauerpatient früher kaum die eigene Entwicklung daheim in Hethel leisten, ist er gerade dabei, an den Milliarden des chinesischen Geely-Konzerns zu genesen und sich vom Nischenanbieter für puristische Sportwagen zu einer elektrischen Alltagsmarke für eilige Besserverdiener zu wandeln. "Das geht nicht, ohne den Fokus der Entwicklung deutlich zu weiten," sagt Serino Angellotti aus dem Führungsteam, der bald den 200. Mitarbeiter einstellen will und auf den sechs Etagen des eigenwilligen Rundbaus schon Platz für noch mehr Experten schafft.
Denn es gibt viel zu tun für seine Mannschaft: Ging es den Briten mit ihrem spitz auf die Nische der puristischen Sportwagen zugeschnittenen Modelpalette bis dato vor allem um Performance und Rundenzeiten, achten sie jetzt auch auf Komfort und – Vorsicht: Fremdwort – Connectivity. Denn während es früher in manchen Modellen nicht mal für Geld und gute Worte ein schlichtes Radio gab, installieren sie in Autos wie dem elektrischen Luxus-SUV Eletre Touchscreens, soweit das Auge reicht, und programmieren dafür ein digitales Angebot an Information und Unterhaltung, das ohne entsprechende Strategie schnell zum Overkill führt. Nicht umsonst haben sie hier einen Simulator, in dem sie jedes Cockpit nachbauen und die Bedienung testen können, bevor eine Serienfreigabe erteilt wird.
Lotus Tech Innovation Center in Raunheim
BildergalerieUnd noch ein neues Themenfeld haben sie hier in Raunheim besetzt: Das autonome Fahren. Haben Lotus-Fahrer bei Elise & Co schon ein ABS als Bevormundung gegeißelt und das ESP gar vollends als Frevel und Entmündigung abgetan, wird der Fahrer im Eletre auf Knopfdruck zum Passagier und genießt maximale Unterstützung bei Spurführung, Abstand und Tempo. "Und der nächste Schritt ist bereits angelegt," sagt Angellotti: "Die Hardware fürs vollkommen autonome Fahren ist an Bord, und Software liefern wir irgendwann per Over-the-Air-Update nach. Aber natürlich erst, nachdem sie nicht zuletzt hier in Raunheim ausgiebig getestet wurde."
Natürlich sitzen Herz und Hirn von Lotus weiterhin daheim in Hethel, viele Grundlagen für Elektroantrieb und Elektronik-Ausstattung kommen aus einer Denkfabrik in China und die Konzernschwester Volvo in Schweden leistet auch ihren Beitrag. Doch auch der wahrscheinlich kleinste Knoten im Globalen Netzwerk hier in Raunheim hat so seinen Anteil daran, dass die Briten in diesem Herbst mit dem Eletre noch vor Porsche & Co das erste elektrische SUV eines Sportwagenherstellers auf den Markt bringen, für das nächste Jahr mit dem Emeya bereits einen Taycan-Gegner angekündigt haben und spätestens mit einem elektrischen SUV für die gehobene Mittelklasse ab 2025 dann auf mehr als 100.000 Autos pro Jahr kommen wollen. Eine Zahl, die sie früher nicht mal in einem Jahrzehnt geschafft haben. "Denn hier bei uns laufen die Fäden zusammen“, sagt Angellotti und sein oberster Chef Qingfeng Feng legt noch einen drauf: "Das ist unsere Denkfabrik und unser Talent-Pool", sagt der chinesische CEO der Group Lotus.
Dass der ausgerechnet in Deutschland angesiedelt ist, hat für Angellotti mehrere Gründe. Zum einen ist da die Sache mit den Fachleuten, deren Dichte hier größer ist als sonst wo in Europa – selbst wenn die bald 200 Mitarbeiter in Raunheim eine bunte Truppe aus über einem Dutzend Länder sind und hier viele verschiedene Sprachen durch die Flure schwirren. Und dann sind da die großen Zulieferer und Entwicklungspartner, von denen viele nun mal in Deutschland sitzen. Und der Brexit hat zumindest die Arbeit aus England heraus auch nicht leichter gemacht.
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Vor allem aber ist es – Klischee hin, und Vorurteil her – die Autobahn, die für Angellotti den Reiz ausmacht. Im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. "Denn wenn wir uns mit den wichtigsten Premiummarken der Welt messen wollen, dann müssen wir auf deren Stammstrecken gegen sie antreten." Und das sind nun mal die mit den blauen Schildern, sagt er mit einem Lächeln und schaut aus dem Fenster des Besprechungsraums direkt auf die A3.
Die wird er künftig womöglich noch öfter nehmen als ohnehin schon – vor allem nach Norden, bis zum Dernbacher Dreieck und dann nach Westen in die Eifel. Denn schon bislang spielt Deutschland mit Innovation Tech Center in Raunheim eine entscheiden Rolle in Lotus’ ambitionierten Plänen. Doch bald kommt noch ein weiterer Standort dazu: Weil die Briten auch unter chinesischem Einfluss ihre Wurzeln als Sportwagenhersteller wahren wollen und weil es nirgends bessere Teststrecken gibt als auf dem Nürburgring und drum herum, plant Lotos demnächst einen eigenen Standort in der Eifel – und es kommt ein weiterer deutscher Stempel auf die Geburtsurkunde von Eletre, Emeya & Co.