Wie viele Prototypen, wie viele Testfahrten sind nötig, um einen Reifen zu entwickeln? Diese Frage treibt die Industrie seit langem um. Jeder gefahrene Testkilometer kostet Geld und vor allem Zeit. Doch gerade davon haben die Reifenprofis immer weniger. Denn die Hersteller bringen neue Autos immer schneller auf die Straße. Besonders bei E-Fahrzeugen werden die Zyklen immer kürzer. Je schneller ein Stromer auf die Straße kommt, desto eher können die Hersteller ihre Flotten-Emissionen senken und Strafzahlungen vermeiden.
Deshalb ist Michelin vor einigen Jahren dazu übergegangen, Reifen am Simulator zu entwickeln. Hauptsächlich für Rennfahrzeuge, da drängt die Zeit besonders. Als vor zwei Jahren fürs 24-Stunden-Rennen von Le Mans eine neue Fahrzeugklasse eingeführt wurde, blieb nur knapp ein Jahr, um die Autos zu entwickeln. Zeit für Testfahrten mit passenden Reifen? Quasi null. „Am Simulator schafften wir in wenigen Monaten, wofür wir zuvor zwei bis drei Jahre benötigten“, sagt Matthieu Bonardel, Chef von Michelin Motorsport. Wie verhält sich der Wagen in Kurve drei in Runde fünf mit unterschiedlichen Gummimischungen, Profilen oder an besonders heißen Tagen? Ein paar Klicks im Kontrollraum, schon fährt der Testpilot die Strecke an der Stelle nochmals ab, unter geänderten Bedingungen. „Die Daten werden direkt ausgewertet und wir können sofort nachjustieren“, sagt Bonardel. Auch bei den Mitte Juni wieder anstehenden 24-Stunden-Rennen von Le Mans werden alle 16 Hypercars der Königsklasse mit Reifen ausgerüstet, die Michelin komplett am Simulator entwickelte.
Reifenentwicklung bei Michelin
BildergalerieDie virtuellen Testfahrten schonen auch Ressourcen. "Mithilfe der Software-gestützten Arbeit konnten wir die CO2-Emissionen um 63 Prozent senken", sagt Bruno de Feraudy. Das sei ein wichtiges Argument für das Unternehmen, das wie alle eine CO2-neutrale Produktion anpeilt, so der Leiter der Erstausrüstung. Allerdings wird es wohl noch bis 2050 dauern, bis sämtliche Produkte aus nachwachsenden, ökologisch produzierten oder recycelten Materialien hergestellt werden können.
Natürlich fließen die Erkenntnisse aus der Entwicklung solcher Hightech-Rennreifen auch in die Forschung für die Erstausrüstung ein. Schließlich rollt jeder Neuwagen auf ganz speziell für den Fahrzeugtyp abgestimmten Gummis vom Band. Gerade bei den vielen neuen Elektroautos gewinnt der Reifen immer mehr an Bedeutung. Im Vergleich zu einem Verbrenner schleppen E-Autos im Schnitt 400 bis 600 Kilo, die vorwiegend in den USA aufkommenden elektrischen Pick-ups gar eine Tonne mehr Gewicht mit sich herum. Stärkere Motoren und das hohe Drehmoment fordern die Gummis zusätzlich. Außerdem verlangen die Fahrzeughersteller immer geringere Rollwiderstände, damit die Reichweiten ihrer Stromer steigen. "Das hohe Gewicht von Elektroautos kann die Laufleistung eines herkömmlichen Reifen aber um ein Drittel verringern", sagt de Feraudy.
Mischung, Profil und Größe müssen stimmen
"Aber nur weil Autos immer schwerer werden, können man nicht immer größere Reifen mit höherer Traglast montieren." Deshalb jagen die Testpiloten den Prototypen neuer Fahrzeugmodelle so lange über virtuelle Strecken, bis Mischung, Profil und Größe des Reifens passen. "Früher haben wir ganze Lkw voller Testreifen beim Hersteller abgeliefert. Dessen Piloten haben die auf der Teststrecke ein wenig angefahren und uns dann die Verbesserungswünsche mitgeteilt." Zigtausende Reifen wurden so quasi für die Tonne produziert. Schon aus ökologischen Aspekten ein Wahnsinn.
Noch sind die Stromer aber in der Unterzahl auf der Straße. Welche Vorteile haben also Fahrer eines Diesels oder Benziners, wenn sie irgendwann ihre Pneus wechseln müssen? "Sie sollten speziell für E-Autos entwickelte Reifen kaufen", empfiehlt de Feraudy. Ein 17 oder 18 Zoll großer Reifen habe die gleichen Eigenschaften wie der für den Stromer entwickelte 20-Zöller. Die längere Lebensdauer und der geringere Rollwiderstand machen den Aufpreis am Ende locker wieder wett, meint der Profi. Und die Umwelt dankt es auch.