ICDP-Studie: Große Veränderungen dauern noch

In den Medien kursieren viele Meldungen über das Ende des individuellen Fahrzeugbesitzes und dass dieser durch einen Mobilitätsdienstleister oder ein autonomes Auto ersetzt wird. Das International Car Distribution Programme (ICDP) bestreitet nicht, dass die Branche vor großen Herausforderungen steht, aber das Ausmaß und die Geschwindigkeit dieser Veränderungen ist unserer Ansicht nach oft übertrieben und widersprüchlich. Wir glauben nicht, dass die ACES (Autonomy, Connectivity, Electrification und Sharing) einen signifikanten Einfluss auf das Neuwagengeschäft mit Privatpersonen haben, denn: - Der Weg hin zum vollautomatisierten Fahren ist wegen den ethischen und technischen Herausforderungen noch sehr weit von der Marktreife entfernt. - OEMs haben eine gute Ausgangsposition, eine Connectivity-Plattform bereitzustellen, doch die erforderliche Umsetzung gelingt nur durch Kollaboration mit führenden IT-Unternehmen. - Im Jahre 2025 werden reine E-Fahrzeuge einen wachsenden, aber nur geringen Anteil des Neuwagenabsatzes darstellen, da auch die Verbrennungsmotoren verbessert werden. - Die meisten Carsharing-Unternehmen sind ohne staatliche Subventionen oder Zufluss an Investitionen nicht tragbar. Sharing-Angebote werden als Ergänzung des Nahverkehrssystems genutzt. Insgesamt wächst die Anzahl von Führerscheinbesitzern in Europa. Auch die Millenials-Generation und Stadtbewohner schätzen weiterhin Autonutzung und die damit verbundene Flexibilität. Kundenverhalten Durch die vermehrte Anzahl von Informationsquellen im Internet verändert sich das Kundenverhalten. Der Kunde ist bestens informiert, unabhängig davon, welchen Vertriebskanal er nutzt. Es gibt jedoch keinen Beweis dafür, dass Online-Recherche den Besuch eines Autohändlers ersetzt. Die meisten wollen Online- und Offline-Aktivitäten kombinieren. Lediglich acht Prozent der Autokäufer können sich vorstellen, den gesamten Kaufprozess online abzuwickeln. In den vergangenen sechs Jahren ist sogar die Anzahl der Händlerbesuche beim Neuwagenkauf leicht gestiegen und der Kunde ist eher bereit, weitere Strecken zurückzulegen, um zu einem Händler zu gelangen, der genau sein Wunschauto anbietet. Insgesamt erwarten heute schon 37 Prozent der Kunden "Omni-Channel-Strukturen" in ihrer Customer Journey. Omni-Channel Omni-Channel im Autohandel bedeutet, dem Kunden ohne Medienbrüche online verschiedene Angebote anzubieten und nahtlos einen Termin für die Beratung vor Ort zu vereinbaren. Die Fortsetzung der Interaktion ist im Autohaus, wo der Verkäufer den gleichen Informationsstand hat wie der Kunde, ohne die Notwendigkeit vorheriger Prozessschritte zu wiederholen. Genauso gut soll es umgekehrt funktionieren. Nach der Beratung im Autohaus soll der Kunde online auf das Angebot vom Händler zugreifen können. Die Herausforderung der Branche besteht darin, Omni-Channel im gesamten Netzwerk umzusetzen. Um einen reibungslosen Ablauf zu gewährleisten, müssen alle Beteiligten gemeinsame Prozesse teilen oder zumindest gemeinsame Schnittstellen haben, an denen ein Kunde die Kanäle wechselt, z. B. von der OEM- zur Händler-Website und weiter zu einer anderen Händler-Website. Autohändler werden einen Kunden für einen gewissen Teil seiner Customer Journey begleiten, auch wenn es keine Gewissheit gibt, dass der Kunde beim selben Händler den Kauf abschließt. Die Unternehmen müssen willens und in der Lage sein, Daten über den Kunden und den aktuellen Status der Customer Journey zu teilen. Im Omni-Channel sind dies Netzwerkdaten und keine OEM- oder Händlerdaten. Um diese Investitionen zu stemmen, müssen Kosten im Netzwerk gekürzt werden. Dabei wird das Vertriebssystem durch Rationalisierung der Standorte und durch Effizienzsteigerung verändert. Neue Handelsformate In Zukunft gibt es vermehrt "gebündelte Leasing-Verträge" mit zusätzlichen Dienstleistungen wie z. B. Versicherungen und Service-Flatrates oder "Subscription Modelle". Auch die Fortführung dieser Dienstleistungen mit Gebrauchtwagen ist höchstwahrscheinlich. Durch den Verkauf von "gebündelten Verträgen" werden die Produkte beratungsintensiver und der Händler wird den Kunden über die Dauer des Vertrages langfristig begleiten. Dennoch wird in Zukunft der OEM mehr direkten Kundenkontakt haben als bisher, z. B. durch Over-the-air-updates, die Bearbeitung von Telematik-Meldungen und einen zentralisierten Service mit einem Call-Center/Online-Chat. Der Kunde erwartet einen 24/7 Service, den er aus anderen Branchen kennt. Neben der Online-Präsenz werden auch Kundenkontakte über zusätzliche Standorte wie Pop-up-Stores oder mobile Showrooms generiert. Große Händlergruppen werden verschiedene Variationen von Standorten managen wie z. B. ein "Brand centre" in der Innenstadt (auch in Kooperation mit einem OEM möglich) und kleinere Autohäuser am Stadtrand. Händler in ländlichen Gebieten werden vermehrt als Agenten auftreten und im Auftrag von OEMs oder größeren Händlergruppen agieren. Es wird eine Abgrenzung von Vertrieb und Werkstatt geben, um eine effizientere Netzwerkplanung vorzunehmen. Wobei das Werkstatt-Netzwerk auch aus vielseitigen Formaten bestehen wird: Reparaturzentren für komplexe Reparaturen sowie ein sekundäres Netz für Wartungsarbeiten und zum Austausch von Verschleißteilen. Neues Vergütungsmodell Aufgrund dieser Vielzahl an Veränderungen hat das aktuelle Margen- und Bonussystem keine Zukunft mehr. Wir erwarten, dass die Vergütung abhängig davon ist, welchen Prozess ein Händler unterstützt. Neben einer Basismarge für den Verkauf von Produkten und Dienstleistungen, die deutlich niedriger ist als heute, gibt es variable Vergütungen für unterschiedliche Leistungen: Abwicklung einer Probefahrt, Besuch beim potenziellen Kunden vor Ort oder die Übergabe eines Fahrzeuges. Auch die Aufnahme von neuen Kundenkontakten zählt dazu wie auch die Kundenbestätigung, diese Daten mit weiteren Unternehmen zu teilen. Wenn wir davon ausgehen, dass der Online-Verkauf ansteigt (im Sinne von Finalisierung der Transaktion), sollte der Kunde Zugang zu allen Lager-Beständen oder Produktionsaufträgen haben, anstatt nur von den Beständen eines einzelnen Händlers zu wählen. Dies maximiert die Auswahlmöglichkeit für den Kunden und reduziert insgesamt die Lagerbestände und Logistikkosten. Weiterhin wird es vom OEM einen Investitions-Bonus geben, bezogen auf den Standort, die Mitarbeiter-Qualifikation wie auch für Marketing-Ziele. Unterschiedliche Einnahmequellen Mit all den neuen Möglichkeiten werden die Einnahmequellen von zukünftigen Händlern sehr unterschiedlich und vielseitig aussehen. Ein Händler ist flexibler und kann z. B. ein Fahrzeug im Rahmen eines Leasingvertrages anbieten, das im Bestand eines anderen Händlers ist. Dadurch wird zwar weniger Umsatz erreicht aber es kann dennoch eine hohe Marge erzielt werden. Die Einkünfte durch die einzelnen Stufen einer Customer Journey wären höher und gleichzeitig das "gebundene Kapital" niedriger. Neue KPIs (Key Performance Indicator, dt. Leistungskennzahlen, Anm. d. Red.) werden eingeführt, um die Performance der einzelnen Händler zu messen. Diese kulturelle Transformation ist genauso bedeutsam wie die Veränderung des Händler-Netzwerkes. Die Anpassung wird schwierig Es wird signifikante Veränderungen in allen Bereichen der Zusammenarbeit zwischen OEM und Handel geben. Dies wird jedoch nicht alles sofort über Nacht geschehen. Es ist ein kontinuierlicher Veränderungsprozess der gesamten Branche. Es gibt vereinzelte Pilotprojekte, neue digitale Produkte werden eingeführt und die IT-Strukturen in effizientere Systeme umgewandelt. Neue Dienstleistungen und E-Commerce-Plattformen werden auf den Markt kommen und an Einfluss gewinnen. Einige Marktakteure werden freiwillig aussteigen, während andere sich der neuen Umgebung anpassen und die Chance in einer Omni-Channel-Welt wahrnehmen. Handlungsempfehlungen Dies alles wird die Konsequenz von vielen einzelnen Entscheidung sein, denn die Richtung wird vom Kunden bestimmt, der letztlich durch Akzeptanz neuer Angebote, Prozesse und Kanäle das Tempo des Wandels bestimmt. Neue Angebote müssen mit geringen Volumen realisierbar sein, damit das Geschäftsmodell durch fortschreitende Erfahrung verbessert werden kann. Diese neue Welt kann ohne ein gewisses Maß an Integration und Kollaboration mit anderen nicht funktionieren. Es gibt eine Reihe von Punkten, die jetzt schon in die Wege geleitet werden können: - Die OEMs müssen ihr Omni-Channel-Konzept, die Prozesse und das Netzwerk definieren sowie diese Pläne zeitnah an die Händler kommunizieren. - Autohändler können dann entscheiden, welche Position sie einnehmen und welches Konzept zu ihnen passt. Mit dieser Sicherheit kann ein Geschäftsmodell auf Basis der Omni-Channel-Struktur des OEMs entwickelt werden. - Unternehmen aus dem freien Ersatzteilmarkt können sich auf mögliche Kooperationen vorbereiten, wie beispielsweise unabhängige Teilehändler für den Vertrieb von OEM-Ersatzteilen oder freie Werkstattkonzepte zur Kooperation mit OEMs/Autohändlern zur Abwicklung von vorab definierten Aufträgen. - IT- und Technologiedienstleister haben viele neue Möglichkeiten und passen ihre Produkte auf die Veränderung der aktuellen Marktstruktur an, wobei die Produkte und Dienstleistungen flexibler werden. Der Kunde wird der Gewinner sein. Denn es geht eben nicht darum, nur neue Wege zum Markt zu finden, sondern darum sicherzustellen, dass die Kanäle und die Interaktion mit dem (potenziellen) Kunden über Produkte und Serviceangebote auf den neuesten Stand gebracht werden. Kurzfassung Die Autobranche steht vor großen Herausforderungen, aber das Ausmaß und die Geschwindigkeit dieser Veränderungen wird oft übertrieben. ICDP-Experte René Herrmann entwirft ein Szenario für die nächsten Jahre. ICDP René Hermann ist der Repräsentant des International Car Distribution Programme (ICDP) in Deutschland. ICDP ist eine internationale Forschungs- und Strategie-Organisation für den Automobilhandel und Aftermarket. Im Sommer 2018 hat ICDP den Report "The European Dealer of Tomorrow" veröffentlicht, der die Sichtweise der Experten auf die Zukunft des Autohandels beschreibt. Der Report beinhaltet Highlights der ICDP-Forschung und kann auf www.icdp.net heruntergeladen werden.

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