Noch sieht das Zukunftsprojekt ziemlich traurig aus, zumindest für Porsche-Fans. An diesem Herbstmorgen vor dem Eingang zur Technischen Universität Dresden steht ein stahlblauer Taycan Turbo S – oder besser: das, was davon übrig ist. Nach der Mitte des Rücksitzes ist der Elektro-Porsche ebenso abgeschnitten wie knapp vor der Windschutzscheibe. Und auch der Unterbau ist seines Fahrwerks, der Batterie und der Reifen beraubt.
Thomas Tüschen ist dennoch überglücklich. "Jetzt nimmt meine Arbeit nach einem Jahrzehnt endlich sichtbare Formen an", freut sich der Wissenschaftler am Institut für Kraftfahrzeugtechnik. Denn das voll funktionsfähige Taycan-Cockpit wird der Kern eines Fahrsimulators, wie es noch keinen auf der Welt gibt. In den kommenden Monaten wird der Porsche unter einer schneeweißen Kuppel verschwinden – und die wiederum kommt auf ein fahrbares Gestell, das zudem hydraulisch blitzschnell den ganzen Koloss in alle Richtungen neigen kann.
Rund 4,5 Tonnen wiegt das Gefährt, das eine zweistellige Millionensumme gekostet hat. Nicht nur deswegen ist es einmalig. Dieser Fahrsimulator kann nämlich anders als alle anderen wirklich fahren. Und das verspricht einen Erkenntnissprung, so Tüschen.
Wie im echten Auto messbar
Auf einer Fläche fast so groß wie ein Fußballfeld kann der Fahrer den Simulator völlig frei bewegen – mit maximal rund 50 Stundenkilometern. "So wird die Beschleunigung über das Innenohr real wahrgenommen und eben nicht nur nachempfunden", erklärt der Ingenieur die Besonderheit. Fahrdynamik-Tests mit Wankbewegungen, aber auch Anfahren und plötzliches Stoppen sind also wirklich wie im echten Auto messbar und genauso die entsprechende Belastung des Fahrers.
Mediziner oder Psychologen können so beispielsweise testen, wie hoch der Stress ist, wenn ein Fahrer in einem autonom fahrenden Auto plötzlich das Steuer wieder übernehmen muss. Dazu haben die Forscher das Lenkrad zudem mit Sensoren versehen, die genau messen, wann, wie schnell und wo der Mensch das Steuer wieder übernommen hat. Solche so genannten "Übergabe-Szenarien" sind entscheidend für das künftige hochautomatisierte Fahren, bei dem die Maschine im Wechsel mit dem Menschen zeitweise die Steuerung übernimmt.
Der Simulator kann aber nicht nur bis Tempo 50 solche Situationen darstellen. "Denn Geschwindigkeit nehmen wir Menschen anders als Beschleunigung rein visuell wahr", so Forscher Tüschen. Deswegen steckt der Taycan unter der Kuppel. Auf der wird beim Test innen eine komplette virtuelle Umgebung eingespielt. Und die kann künstlich auch viel höhere Geschwindigkeiten vorspielen als die real auf den vier 20-Zoll-Reifen in Größe 330/30 gefahrenen.
Damit die Illusion perfekt ist – und exakt messbar –, simulieren Motoren die Kräfte, die etwa bei Tempo 200 in der Kurve, einer schnellen Richtungsänderung oder bei einer Vollbremsung auf den Körper einwirken. Sogar der Sitz kann dazu entsprechend bewegt werden. Augen-, Fuß- und Kopfbewegungen werden dabei ständig überwacht, wenn sich die Reifen beispielsweise in ein paar Millisekunden um 90 Grad drehen. Der Tester braucht also schon einen robusten Magen, wenn es simuliert die Serpentinen eines Alpenpasses hochgeht, und das womöglich noch ohne Hände am Steuer. Auch deswegen haben die Forscher dem Simulator eine Klimaanlage spendiert.
Der virtuelle Zwillung
Auf dem Cockpit können zudem neue Software-Versionen, Fahrprogramme oder Assistenzsysteme im Betrieb getestet werden, die es in der Wirklichkeit noch gar nicht gibt. Das virtuelle Fahrzeug ist damit auch Beispiel für einen Trend, der in der Autoindustrie mehr und mehr Einzug hält: den virtuellen Zwilling. Das ist ein komplettes Abbild aller Daten eines realen Fahrzeuges auf den Computern und in der Cloud des Herstellers. Bei Porsche arbeitet Till Fuchs etwa an diesem Meilenstein der Fahrzeugentwicklung. Gegenwärtig promoviert der Forscher zu diesen "digital twins" an der TU Dresden.
Mit dem Daten-Zwilling kann etwa, ganz ähnlich wie beim Simulator, neue Software erst einmal auf einem wirklich vorhandenen Auto mit allen individuellen Ausstattungsdetails im künstlichen Fahrbetrieb getestet werden. Funktioniert alles wie gedacht? "Das können wir so erst einmal wirklichkeitsnah testen, bevor die Daten drahtlos im realen Auto upgedated werden", erklärt Fuchs. Ganz so wie bei einer neuen Version einer Handy-App.
Es geht aber noch mehr: Umgekehrt ist etwa auch denkbar, dass ein reales Fahrzeug zum Beispiel beim Laden einen Fehler an seinen digitalen Zwilling meldet. Dort löst ein Hochleistungsrechner das Ladeproblem, spielt das passende Datenpaket auf das reale Auto auf, und der Ladevorgang geht weiter. Von all dem merkt der Nutzer nichts.
Verbesserte Scheinwerfer-Funktionen, Laden, Assistenzsysteme, neues Infotainment oder ein Update des Batteriemanagements: Genau wie im Super-Simulator sind auch beim digitalen Zwilling die Entwicklungsrichtungen und -möglichkeiten fast unbegrenzt. Darum haben die Zuffenhausener auch gleich eine umfassende Kooperation mit der Dresdner Exzellenz-Uni abgeschlossen. So muss nicht jedes Projekt einzeln genehmigt werden. Neue Test-Ansätze mit dem Simulator können dadurch zügiger umgesetzt werden. Und auf Schnelligkeit kommt es ja gerade bei einem Sportwagenbauer an – selbst bei Tempo 50 im langsamsten Porsche der Welt.