Von Hanne Lübbehüsen/SP-X
Das erste Mal ist etwas unheimlich: Nach 14 Jahren Führerscheinbesitz schweift der Blick beim Wechsel auf die linke Spur im Stadtverkehr ohne darüber nachzudenken automatisch zum linken Spiegel. Heute nicht. Heute ist der Blick stur dorthin gerichtet, wo sonst der Rückspiegel hängt. Da sieht man: links ist frei. Also: Blinker setzen, durchatmen, nach vorn sehen, links rüberziehen. Was in Europa voraussichtlich ab diesem Jahr erlaubt wird, haben wir getestet: Autofahren mit Kameras statt Spiegeln.
Es hätte auch gar nichts gebracht, in den linken Spiegel zu sehen, der existiert bei diesem Prototyp des Hybrid-Sportwagens i8 gar nicht. Ebenso wenig der rechte. An ihrer Stelle gibt es zwei kleine Flügelchen, in denen jeweils eine nach hinten blickende Kamera eingebaut ist. Eine Stereo-Kamera oberhalb der Heckscheibe liefert weitere Bilder von den Geschehnissen hinter unserem Fahrzeug.
Angezeigt werden alle drei Bilder dort, wo sonst der Innenspiegel angebracht war: Das Display hat Ähnlichkeit mit einem herkömmlichen Rückspiegel, ist aber mit rund 30 Zentimetern Breite und 7,5 Zentimetern Höhe etwas größer.
Drei Kamerabilder ergeben ein Bild
Entscheidender Vorteil: Alle drei Kamerabilder werden zu einem einzigen Bild zusammengefügt, das eigene Auto ist als Schattenriss innerhalb der sich bewegenden Fahrzeuge zu erkennen. Nach etwas Eingewöhnung soll der Fahrer so Situationen schneller – weil mit nur einem Blick – erfassen. "Normalerweise guckt der Fahrer in die einzelnen Spiegel und ordnet die Verkehrsteilnehmer hinter sich räumlich zu", erklärt BMW-Projektleiter Philipp Hoffmann. "Das übernimmt nun das System, für den Fahrer genügt ein Blick, um die Situation zu erfassen."
Außerdem deckt das Abbild des rückwärtigen Verkehrsgeschehens größere Blickwinkel ab, als bisher die Innen- und Außenspiegel. Hoffmann: "Die Kamera-Bilder überlappen sich. Wir schneiden die redundanten Bereiche weg und zeigen dafür seitlich mehr – einen toten Winkel gibt es so nicht mehr." Tatsächlich sieht man das Fahrzeug auf der Nebenspur entweder im Display oder beim Blick aus dem Fenster – selbst kleinere Verkehrsteilnehmer wie Motorräder sollen so nicht im toten Winkel verschwinden.
Weil beim Rechtsabbiegen das Bild im Display automatisch ausgedehnt wird und zudem eine Warnung aufleuchtet, wenn sich in dieser Situation von hinten ein Radfahrer nähert, soll auch eine typische innerstädtische Unfallsituation vermieden werden. Auch wenn der Fahrer blinkt, obwohl sich von hinten ein schneller Wagen nähert – weist ein gelbes Warnsymbol auf die Kollisionsgefahr hin.
In der regnerischen Dämmerung auf der Testrunde im Leuchtreklamen-überfüllten Las Vegas gerät das noch in der Entwicklung befindliche System zwar an seine Grenzen, liefert aber immer noch Bilder an denen man sich gut orientieren kann. "Das System ist länger verfügbar als normale Spiegel", sagt Hoffmann. Tatsächlich wäre auch bei herkömmlichen Spiegeln bei diesen Verhältnissen die Aussicht nicht besonders gut. Eine spezielle Antischmutzbeschichtung schützt die Gorilla-Glass-Scheibe vor der Kamera, zudem kann man sie beheizen, um möglichst optimale Sicht zu haben.
Entscheidung in Europa in diesem Jahr
Bis die Spiegel in Serienfahrzeugen durch Kameras ersetzt werden, dauert es ohnehin wohl noch einige Jahre. Vor allem, weil die rechtliche Lage noch nicht geklärt ist: In Europa rechnet BMW in diesem Jahr mit einer Entscheidung, 2017 in den USA und im asiatischen Raum könnte es bis 2018 dauern, bis geklärt ist, ob Fahrzeuge mit Kameras statt Spiegeln zulassungsfähig sind.
Von der Reduzierung der Außenspiegelfläche auf zwei kleine Ärmchen versprechen sich die Hersteller aufgrund der besseren Aerodynamik – der i8 Mirrorless weist einen cw-Wert wie ein i8 ohne Außenspiegel auf – auch Verbrauchsvorteile. Und Automobil-Designer dürften jubeln, wenn die ungeliebten Außenspiegel endlich weichen. Nicht umsonst haben die schönen Messe-Showcars gewöhnlich keine Spiegel, sondern immer nur angedeuteten, sehr schlanken, aber bisher eben nicht funktionierenden Ersatz.